Cloé Mehdis „Nichts ist verloren“
Leuchtender Schmerz
In Frankreich kursiert seit Ende Oktober der Hashtag #PasDeVague. An einer Schule in einer typisch französischen Banlieue, nicht wichtig, wo, hatte ein 16-jähriger Gymnasiast eine brutal echt aussehende Waffe an den Kopf seiner Lehrerin gehalten. Die Szene wurde gefilmt, ging viral, es war die Initialzündung für den Hashtag. Lehrer aus dem ganzen Land twitterten unter #PasDeVague von ihrem Alltag. Es sind erschreckende Tweets. Da ist die Lehrerin, der man ein „Hure“ an den Kopf wirft. Berichtet wird von Morddrohungen, von tatsächlichen Übergriffen. Und wie in Deutschland, liest man, werden überwiegend Berufs- und Quereinsteiger an die Problemschulen geschickt, überall fehlen Sozialarbeiter.
Warum der Name „pas de vague“ für „kein großes Aufheben machen“? Weil solche Vorfälle von Schulleitungen und Politik in der Regel heruntergespielt werden. Viele schreiben, der Hashtag richte sich nicht gegen die Schüler, sondern gegen eine Regierung, deren schwache Idee jetzt ist, die Polizeipräsenz an Schulen zu verstärken. Betont wird auch, dass die Gewalt an Schulen statistisch gesehen eigentlich abgenommen hat. Berichtet wird auch von Suiziden. Lehrer bringen sich um. Ungefähr hier, in einem sozial prekären Stadtteil namens Verrières (dessen Aufwertung und die Verdrängung der Bewohner die Leser mitverfolgen), ist der zweite Roman der französisch-algerischen Schriftstellerin Cloé Mehdi angesiedelt. Für Nichts ist verloren, der 2016 in Frankreich erschien, wurde Mehdi vielfach ausgezeichnet.
Erzählt wird vor allem aus der Sicht des elfjährigen Mattia, sein Vater, ein ehemaliger Sozialpädagoge, hat sich vor ein paar Jahren erhängt, nachdem sein Schützling Said von einem Polizisten getötet worden war. Der Polizist kam straffrei davon. Es kam zu Unruhen im Viertel. „Da kommt er also mit zwanzig von der Berufsfachschule, freut sich über seinen Abschluss und bewirbt sich ausgerechnet dort, wo niemand hin möchte. Zu dem Zeitpunkt ist er noch voller Optimismus und überzeugt, etwas zu verändern. Er kann eine Woche nicht schlafen, wenn einer von den Jungs in den Knast wandert, kurzum, er macht seinen Job mit Leidenschaft“, sagt Gina, Mattias Schwester über den Vater. Der Vater habe versucht, das alles zu „rekompensieren“, erklärt die Psychiaterin Nouria dem Kind. Die Mutter ist seit dem Suizid unfähig, sich um die Kinder zu kümmern. Seit ein paar Wochen meldet sie sich gar nicht mehr. Mattia lebt bei „Zé“, der sich mit seinem Vater ein Zimmer in der Psychiatrie teilte, bis der sich erhängte. Zé, Sohn eines Strafanwalts und aus „stinkreichem“ Hause, ist aber mitnichten der ideale Vormund. Hat er seine Mitschülerin damals aus dem Fenster geschubst oder sprang sie selbst? Zé arbeitet als Nachtwächter, liest Verlaine, Rimbaud und Camus und ist vor allem damit beschäftigt, seine zum Selbstmord entschlossene Freundin Gabrielle vor der Tat zu hindern. Er rekompensiert auf seine Weise. Zum Glück hat Mattia eine verständnisvolle Lehrerin und wird von der besonnenen Nouria betreut, die dieses unerträglich dysfunktionale Zuhause trotz allem als das derzeit Beste für das Kind einschätzt. Glück kann ja auch sein, wenn Zé dir einen Tennisball in den Pyjama näht, damit „das Ding“ nicht mehr in deine Träume dringt. Und ganz oben auf dem Kran ist der Blick über Verrières doch irgendwie schön, wenn deine Schwester Gina neben dir sitzt.
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