Natascha Wodin: Irgendwo in diesem Dunkel
Natascha Wodin verwandelt den Terror ihres Vaters in große Literatur
Kurz nach der erschütternden Spurensuche im Leben der früh durch Selbstmord gestorbenen Mutter kommt nun ein kaum weniger schockierendes Buch über den Vater: Für Sie kam aus Mariupol erhielt Natascha Wodin letztes Jahr – zurecht – den Buchpreis der Leipziger Buchmesse. Nicht nur erforschte Wodin die Leidensbiografie ihrer Mutter, sie zeigte zugleich am Schicksal der osteuropäischen Zwangsarbeiter ein weithin unbekanntes Kapitel in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts auf. Indem sie dabei auch vom Hass berichtete, der „displaced persons“ wie ihrer Familie in der fränkischen Provinz der Nachkriegszeit entgegenschlug, erzählte sie freilich ebenso von aktuellen Entwicklungen.
Nun also ist der Vater dran: Irgendwo in diesem Dunkel zeigt ihn als einen gewalttätigen, trunksüchtigen Mann, um Jahrzehnte älter als die Mutter. Allerdings ist er gesegnet mit einer außergewöhnlichen Singstimme, die ihm ein Dauerengagement beim Don-Kosaken-Chor einbringt. Oftmals, etwa als die depressive Mutter sich mit nur 36 Jahren in der Pegnitz ertränkt, ist er auf Tournee. Ist er jedoch zu Hause, so terrorisiert er seine Familie, die unter ärmlichsten Bedingungen in einer Stadtrandsiedlung für ehemalige Zwangsarbeiter lebt. Alkoholisiert macht der Vater einmal sogar Anstalten, die Tochter zu vergewaltigen. Doch im letzten Augenblick zögert er. Die Schere, welche das Mädchen im Verborgenen bereithält, kommt nicht zum Einsatz.
Es ist dies nur eine der vielen fürchterlichen Episoden aus Kindheit und Jugend, die Wodin in diesem Buch erzählt. Als Leser wünscht man sich, der autobiografische Bericht möge zu einem beträchtlichen Teil erfunden sein, etwa die Doppelvergewaltigung durch einen iranischen Studenten. Gleichwohl, man muss leider annehmen, dass hier ebenso die Wahrheit erzählt wird. So etwa wenn es um die Züchtigungen geht, die Wodin als Elfjährige während ihrer Zeit in einem von katholischen Nonnen geleiteten Kinderheim erdulden muss. Oder die Umstände ihrer selbst herbeigeführten Abtreibung als Notfallmaßnahme nach den Vergewaltigungen, die nicht nur ihre ersten sexuellen Erfahrungen waren, sondern eben gar zu einer ungewollten Schwangerschaft führten.
Über die erlittenen Traumata schreibt Wodin im Duktus einer distanzierten, mal bewusst naiven, mal sogar ironischen Haltung. Die schreckliche Geschichte vom Tod des verhassten Vaters rekapituliert sie so: „Es war genau das eingetreten, was ich mir als Mädchen so sehnlich gewünscht hatte: Er sollte leiden, er sollte alt, krank, hilflos und auf mich angewiesen sein.“ Wodin beschreibt nun genauestens, wie sie zwar Rache- und Machtfantasien entwickelt, zugleich aber töchterliche Verantwortung spürt, weil das körperliche Elend ihres Erzeugers sozusagen kreatürliches Mitleid auslöst.
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