Annie Ernaux: Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus
Der ursprünglich 1997 erschienene Band "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus" zeigt Annie Ernaux' Notizen aus der Zeit, in der ihre Mutter endgültig in der Demenz verschwindet.
von Judith Heitkamp
Seltsam, dass der Titel dieses andere Ich verwendet. Eigentlich ist Annie Ernaux ganz nah am Ich ihrer Texte, zwangsläufig, als Ethnologin ihrer selbst, wie sie sich beschreibt. Und sie erzählt auch dieses Buch als Ich-Erzählerin Annie Ernaux. "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus" aber ist ein Satz der demenzkranken Mutter.
Heute habe ich mir zum ersten mal ihr Leben außerhalb meiner Besuche klar vorgestellt, die Mahlzeiten im Speisesaal, das Warten. Tonnenweise Schuldgefühle für die Zukunft. Doch wenn sie weiter bei mir gewohnt hätte, wäre mein Leben vorbei gewesen. Sie oder ich. Mir fällt der letzte Satz ein, den sie geschrieben hat: "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus."
Tonnenweise Schuldgefühle - der Sprung vom Mutter-Ich zum eigenen zeigt die Nähe an, die Verstrickung, die Hilflosigkeit, die in diesen letzten Jahren entsteht, als die Mutter in stationärer Langzeitpflege in der Dermenz versinkt, unrettbar. "Zwischen uns gab es keine Distanz", heißt es an einer Stelle. "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus" ist das Tagebuch des Verfalls, lauter kurze Notizen, unmittelbar nach jedem Besuch festgehalten, in der Erschütterung und Fassungslosigkeit, in der sie sich damals befunden habe, erklärt Annie Ernaux in einem kleinen Prolog. Aufschreiben als existenzielles Bedürfnis.
Wieder festgeschnallt. Schafft es nicht, den Kuchen zu essen, ein Stück Aprikosentorte, ihre Hand findet den Mund nicht, ihre Zunge streckt sich dem unerreichbaren Leckerbissen entgegen. Sie begann, die Kuchenschachtel zu zerreißen, wollte sie essen.
Sie zerriss alles Mögliche, ihr Handtuch, ein Unterkleid, sie wollte die Dinge verdrehen, unempfindlich gegen jeden Schmerz. Ihr Kinn sinkt herab, ihr Mund steht offen. Noch nie war mein schlechtes Gewissen so groß, als wäre ich an ihrem Zustand schuld.
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