Annie Ernaux: Die leeren Schränke
Vor einem Jahr hat Annie Ernaux den Literaturnobelpreis gewonnen. Erstmals in deutscher Sprache ist das vor 50 Jahren geschriebene Debüt der französischen Schriftstellerin erschienen.
von Alexander Solloch
Unverschämt groß war ihr Glück. Gewaltig musste darum ihr Unglück werden. Jetzt blickt die junge Frau, Denise Lesur, auf das, was sie "die Katastrophe" nennt, und versucht, sich Rechenschaft abzulegen.
Das krepierte Leben in mir, in meinem Bauch. Wann, wie. Ich erzähle meine Geschichte. Ich kapiere es immer noch nicht.
Die 60er-Jahre haben gerade begonnen: Frankreich, verstrickt in seine Kolonialkriege, hat wieder einmal General de Gaulle als Retter an die Macht gerufen und ist ansonsten tief gespalten in soziale Klassen, die nichts miteinander verbindet, oder wenn, dann allenfalls die Verachtung, mit der die Angehörigen der einzelnen Schichten auf die jeweils ganz anderen blicken. Denise, die Ich-Erzählerin, die selbst meint, von ganz unten, aus verachtungswürdigsten Kreisen zu kommen, ist ungewollt schwanger geworden und hat heimlich und illegal eine Abtreibung vollzogen. Was das für sie bedeutet, wie darauf ihre Umwelt reagiert, darum geht es hier, in diesem frühen Werk, noch nicht. Das würde Annie Ernaux erst fast drei Jahrzehnte später - und viel weniger fiktionalisiert - in ihrem Buch "Das Ereignis" literarisch aufbereiten. In ihrem Debüt steht immerzu die Frage im Raum: Wie konnte das passieren, woher kam denn bloß die Angst nach einer doch so glücklichen Kindheit, in der Denise noch hatte machen können, was sie wollte? Ihre Eltern, Besitzer einer Kneipe und eines Kramladens, hatten einfach keine Zeit, ihr so etwas wie "Erziehung" angedeihen zu lassen.
Ich kenne nur den Überfluss, alles, was man essen kann, wird lose oder verpackt auf Regalen und in Kisten dargeboten, ich kann alles anfassen, aufreißen, anknabbern, mich in der Kurzwaren-und-Parfüm-Ecke von Gerüchen überwältigen lassen. Ich habe als Kind nie Kaufladen gespielt, ich musste mir keine imaginären Waren ausdenken, alles war frei zugänglich, umsonst, in Reichweite meiner Finger und meines Mundes. Hier herrschten Exzess, Abwechslung, Genuss.
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