Annie Ernaux: Das andere Mädchen
Man kennt diese Herangehensweise schon aus anderen Büchern von Annie Ernaux: Wieder ist es ein Foto, mit dem sie beginnt, das der Auslöser dafür ist, mit sich selbst in einer bestimmten Lebensphase oder einer anderen Person aus ihrem engsten Umfeld auseinanderzusetzen. Dieses Mal ist diese Person „Das andere Mädchen“, so der Titel des jüngsten, auf Deutsch erschienenen Buches der Literaturnobelpreisträgerin, das in Frankreich 2011 veröffentlicht wurde.
Das andere Mädchen ist eine Schwester von Ernaux, die diese nie kennengelernt hat. Denn sie starb zwölf Jahre vor Ernaux’ Geburt, am Gründonnerstag des Jahres 1938, an Diptherie, und gleich nach der Betrachtung des Fotos gesteht die Schriftstellerin viele Jahre an das Grab ihrer Eltern und eben jener Schwester gegangen zu sein, „aber dir habe ich nie etwas zu sagen.“ Das wiederum ändert sie nun mit diesem, keine 75 Seiten zählenden Buch, nicht zuletzt weil es da diese eine, fast schon traumatische Erfahrung gab.
1950 nämlich, da ist Annie Ernaux zehn Jahre alt, verfolgt sie ein Gespräch ihrer Mutter mit einer anderen Frau, darin geht es um die so jung Verstorbene, die Mutter kann die Tränen kaum zurückhalten. Die Zehnjährige schnappt Sätze wie „bei ihrem Tod sah sie aus wie eine kleine Heilige“ auf, „mein Mann ist durchgedreht“ und vor allem: „Sie war viel lieber als die da.“
Ja, und Ernaux folgert: „Die da, das bin ich.“ Und sie folgert auch, das genaue Gegenteil dieser so lieben, wie ein Heilige wirkende Schwester zu sein, sie ist gekränkt, sie fühlt sich „für dumm verkauft“, „geprellt“, aber sieht auch ihre Existenz in einem anderen Licht: „Du musstest also mit sechs Jahren sterben, damit ich geboren und errettet werden konnte.“ Und, um der Sache noch näher zu kommen, hier geht es eben auch ums Schreiben, um eine Initiation, um die Fortführung des Gedanken, genauso „gegen“ wie „für“ die ihr häufig nicht gewogene Mutter geschrieben zu haben: „Ich schreibe nicht, weil du gestorben bist. Du bist gestorben, damit ich schreibe, das ist ein großer Unterschied.“
Annie Ernaux: Das andere Mädchen. Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2022. Aus dem Französischen von Sonja Finck. 74 Seiten, 18 €.
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https://www.tagesspiegel.de/kultur/noch-...ux-8938273.html
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