Annie Ernaux: „Der junge Mann“
Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux erzählt von ihrer Beziehung zu einem 30 Jahre jüngeren Mann.
Es gibt nicht mehr viele Konstellationen, über die sich Menschen in einer halbwegs entspannten Gesellschaft das Maul zerreißen. Ein Liebespaar, bei dem die Frau deutlich älter ist als der Mann, gehört weiterhin dazu. Und dann fällt einem zwar doch gleich noch einiges anderes ein. Annie Ernaux aber schreibt in „Der junge Mann“ eben darüber: Sie, die Schriftstellerin, ist (in den späten 1990ern) Mitte 50, er, der Student, 30 Jahre jünger. Die Leute gaffen im Lokal und am Strand, staunen, denken sich ihren Teil, taxieren die Frau, flirten mit dem Mann – ältere Frauen, weil sie sich (zu Recht) bemerkt fühlen, jüngere Frauen mit der Unverschämtheit jener, die sich (zumindest diesmal zu Unrecht) im Vorteil glauben.
Die Missbilligung, die das Paar erfährt, steht im krassen Gegensatz zu der Selbstverständlichkeit, mit der der Altersabstand zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau hingenommen wird. Die Autorin registriert es mit Amüsement, mit Hochmut und hochgemut. Manchmal ärgert sie sich. Nie verunsichert es sie. „Der junge Mann“ handelt weder vom Zagen noch von Selbstzweifeln. Die Frau, die ja auch nicht alt ist, leidet nicht unter den Jahren, eher neugierig bemerkt sie, wie sich Dinge wiederholen können. Sex in einer Studentenbude, in der nichts richtig funktioniert. Prekäre Verhältnisse, denen Ernaux selbst entwachsen ist – an dieser Stelle ist wenigstens ein bisschen über den „jungen Mann“ zu erfahren, der „die Reflexe und spontanen Gesten“ hatte, „die von einem dauerhaften, ererbten Geldmangel herrührten“. Auch hat er noch nie gewählt, nie einen Wahlschein beantragt und wischt „sich gelegentlich den Mund mit einem Stück Baguette ab“.
Ernaux erkennt alles wieder, die perspektivarme Welt ihrer Kindheit, die es Jahrzehnte später immer noch gibt. Sie erlebt das nun indirekt und sich selbst beobachtend, wie „das Theaterstück meiner Jugend“ oder „einen Roman, dessen Episoden ich sorgfältig konstruierte“. Ist das dem jungen Mann klar? „Er begegnete mir“, heißt es beiläufig, „mit einer Leidenschaft, wie ich sie mit vierundfünfzig Jahren noch bei keinem Mann erlebt hatte.“ Zwischenzeitlich wünscht er sich ein Kind von ihr.
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