Annie Ernaux: Das andere Mädchen
In "Das andere Mädchen" beleuchtet die französische Autorin ein Familiengeheimnis und beschreibt die größte Hypothek ihres Lebens
Mit jahrzehntelanger Verspätung, dafür aber in sehr schöner Aufmachung, veröffentlicht der Suhrkamp-Verlag nun Jahr für Jahr die früheren Bücher der Grande Dame der französischen Gegenwartsliteratur, Annie Ernaux, für die der Durchbruch in Deutschland erst 2019 mit Die Jahre kam – einem Erfolg, der ihr im deutschsprachigen Raum erst im Windschatten ihrer "Ziehsöhne" Didier Eribon und Edouard Louis gelang. International gehört sie seit 2020 zum Zirkel der Kandidaten für den Nobelpreis, der ihr in diesem Jahr schließlich zuerkannt wurde.
Immer wieder kehrt sie zurück zur Urszene, nach Yvetot, in den kleinen Laden, die Épicerie-Mercerie ihrer Eltern mit angeschlossener Kneipe. Der Titel des nun veröffentlichten Textes klingt erst einmal nach Distanz. Wer kann das sein, Das andere Mädchen? Ihre Biografie hat Annie Ernaux in vielen autobiografischen Büchern minutiös ausgeleuchtet: Wir wissen alles über ihre kleinbürgerliche Herkunft im normannischen Yvetot, über Vater, Mutter, über Schande, Mädchenerinnerungen, über ihre schwierige Ablösung, die sie als Verrat empfindet, über demütigende sexuelle Erfahrungen, eine traumatisierende Abtreibung, Vereisungen in der Ehe, heftige Leidenschaften danach und die Demenzerkrankung der Mutter. Was bedeutet nun diese Leerstelle?
Der Verlag Editions Nil hatte 2011 die Idee, in Analogie zu Kafkas nie abgeschicktem Brief an den Vater Autoren und Autorinnen aufzufordern, den ungeschriebenen Brief ihres Lebens endlich zu schreiben. Annie Ernaux nimmt diese Herausforderung an und enthüllt ein weiteres schmerzhaftes Detail ihrer Biografie: Mit zehn Jahren erfährt sie zufällig – sie belauscht ein Gespräch ihrer Mutter –, dass sie kein Einzelkind ist. Es gab "das andere Mädchen", das mit sechs Jahren an Diphterie verstorben war, zwei Jahre vor ihrer Geburt. Der Satz, der für Annie Ernaux ihre bisherige Welt zusammenbrechen lässt, heißt: "Sie ist wie eine Heilige gestorben. (…) Sie war viel netter als die da."
Die da, das ist Annie, der mit diesem Satz der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Von dieser engelsgleichen Schwester war nie die Rede gewesen, wird auch nie die Rede sein vonseiten der Eltern. Es gibt keine Spielsachen, keine Fotos. Erst Cousinen werden später Andeutungen über die tote Schwester machen, drei verschwommene Fotos in Sepia tauchen später bei Tanten auf. Die Eltern haben den Schmerz über den Verlust der geliebten Tochter nie verwunden, aber einen "Ersatz" gezeugt, Annie, die keine Heilige ist, sondern "den Teufel im Leib hat", "gierig und unleidlich, kokett und besserwisserisch" ist.
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https://www.derstandard.at/story/2000139...ich-erzaehlerin
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