Energiekrise: Selten gab es so gute Gründe für Protest
Durch die Energiekrise droht eine unsoziale Schieflage. Die Menschen sollen sich einmischen. Der Leitartikel.
Kiew/Berlin – Selten gab es so gute Gründe für sozialen Protest. Noch seltener aber wurde Protest derart diskreditiert, bevor er überhaupt begonnen hat. Kein Politikerstatement zu möglichen Protesten kommt ohne Warnungen vor Unterwanderung aus. Das hat durchaus seine Berechtigung. Die Gefahr der Instrumentalisierung von Protestbewegungen durch Demokratiefeinde ist real. Das aber darf auf keinen Fall dazu führen, dass die Menschen ihr Recht nicht wahrnehmen, gegen Missstände auf die Straße zu gehen.
Es gibt gute Gründe für Protest. Die Schlangen an den Tafeln werden länger in Deutschland. Bei immer mehr Menschen reicht das Geld schlicht nicht aus. Das ist nur ein Schlaglicht auf die soziale Lage in diesem Land. Man kann sie auch statistisch betrachten. Schon die Corona-Pandemie hat die Armut auf einen neuen Höchststand getrieben. 2021 hatten knapp 14 Millionen Menschen in Deutschland kein ausreichendes Auskommen, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, verfügten also nicht über 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens.
Mittlerweile ist die Lage noch schlimmer geworden. Fachleute schätzen, dass bald weit mehr als die Hälfte der Menschen kein Geld zurücklegen können, sondern alle Einkünfte brauchen, um über die Runden zu kommen. Vor einem Jahr betraf das nur jeden siebten Menschen. Die Inflation galoppiert, und demnächst werden die Zeiten noch härter: Der Tankrabatt läuft aus, für das Neun-Euro-Ticket gibt es keine günstige Anschlusslösung, die Gasumlage trifft vor allem die armen Haushalte. Und der Winter steht erst noch bevor.
Man kann nicht behaupten, dass die Politik diese Missstände übersehen würde. Die Ampelregierung bastelt an einem dritten Entlastungspaket. Das ist gut und notwendig. Aber bisher weiß niemand, wann es kommt und wen es entlastet. Was hingegen bekannt ist: In der Krise sind wieder Milliardensummen geflossen, um ein Unternehmen zu retten, diesmal Uniper. Bekommt nur derjenige Geld, der als systemrelevant definiert wird?
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