Was darf Poesie?
Leipziger Buchpreis Kaum hat mit Jan Wagner der erste Lyriker die Auszeichnung gewonnen, ätzt ein Kritiker gegen die vermeintliche Landlust-Literatur
Friedrich Dürrenmatt bekannte 1975: „Das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, ist, dass ich an einer Buchhandlung vorübergehe und dort im Fenster ein Büchlein sehe mit dem Titel: ,Trost bei Dürrenmatt‘. Dann muss ich sagen: Jetzt bin ich fertig. Literatur darf keinen Trost geben. Literatur, glaube ich, darf nur beunruhigen.“ 40 Jahre später, am Donnerstag vergangener Woche, gewann der Hamburger Jan Wagner den Preis der Leipziger Buchmesse für seinen durchaus auch tröstenden Lyrikband Regentonnenvariationen (Freitag 10/2015). Es war das erste Mal, dass die Leipziger Jury einen Lyriker auszeichnete. Die meisten Kritiker begrüßten die Entscheidung, doch Spiegel-Kritiker Georg Diez ätzte mit dem ihm eigenen Furor: „Hier feiert jemand das ganz, ganz Kleine, das Superprivatistische, die Landlust und Versenkung, Verklärung, Verkitschung der Natur auf eine so humorlose und formal öde Art und Weise, dass Langeweile schon gar kein Wort mehr ist, das sich auf diese Gedichte anwenden lässt.“ Seitdem steht wieder einmal die Behauptung im Raum, die deutsche Literatur werde allein dann beachtet, wenn sie sich der Gegenwart verschließt – und auf formaler Ebene kläglich scheitert.
Nun sind sich bei Jan Wagner die Kritiker und Leser nahezu einig, dass er auf brillante Weise über Ängste, Probleme und Schreckensvisionen schreibt. Naiv? Die von Diez verspotteten „Silberdisteln“ beispielsweise sind auch eine Anspielung auf den Expressionisten Oskar Loerke, bei dem Der Silberdistelwald Mitte der 30er Jahre als Zufluchtsort beschrieben wird. Man muss das nicht wissen, und natürlich können die Regentonnenvariationen schwerlich als politisches Manifest bezeichnet werden. Der Band bedient sich uneigentlicher Sprache. Er ist hintersinnig, keine krawallige Talkshow-Antwort. Er ist eben Poesie. Allgemeine Fragen verhandelt der Leitartikel. Den Problemen des Einzelnen stellt sich dagegen die Literatur, mal auf stille, dann wieder auf laute, zupackende Weise. Selbstverständlich ist die deutsche Literatur vielfältig, also an der einen Stelle „superprivatistisch“, an der anderen dagegen mittendrin im Weltgeschehen. Beides wird immer wieder mit Preisen bedacht. In den vergangenen zwölf Monaten wurden unter anderem ausgezeichnet: Katja Petrowskaja mit dem aspekte-Preis für Vielleicht Esther, einen Roman, der zugleich über das nationalsozialistische Massaker von Babyn Jar und Großmutters süße Rosinenwürste erzählt. Den Clemens-Brentano-Preis erhielt Saskia Hennig von Lange für die melancholische Boxerstory Zurück zum Feuer und der Bremer Literaturpreis ging 2014 an Clemens Meyer für sein monumentales Rotlicht-Epos Im Stein – das denkbar größte Gegenstück zu Wagners Regentonnenvariationen.
Gefühlt jedes Jahr kommen diese Forderungen auf nach einer neuen, relevanteren, urbaneren, weiblicheren oder weniger akademischen deutschen Literatur, gern auch mit Hinweis auf US-amerikanische Vorbilder. Doch diese Literatur ist da, auch wenn 95 Prozent belangloser Quatsch sein mag, aber 95 Prozent belanglosen Quatsch gibt es auch anderswo, im Film oder in der Regionalküche. Ausgerechnet Jan Wagner für diese 95 Prozent Quatsch haftbar zu machen, ist Unsinn. Und was Dürrenmatt angeht: Sogar Trost darf Literatur geben. Solange sie nicht von Paulo Coelho geschrieben wurde. Oder doch: Wenn dieser mal über seinen Schatten spränge – das wäre ja dann sogar noch beunruhigend.
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