Semier Insayif: Was ein Gedicht ist
Leicht hat es die zeitgenössische Lyrik nicht, inmitten von Katastrophenalarm und Krawall. DIE FURCHE schenkt ihr Gehör und beginnt eine neue Serie: „ganz dicht“.
„Niemand weiß, was ein Gedicht ist“, so lautet Peter von Matts erster Satz in seinem Buch „Die verdächtige Pracht“. Was ist ein Gedicht? Warum scheint es so prächtig? Und weshalb ist es mit ständigem Argwohn belastet und stets unter Verdacht? Woraus besteht ein Gedicht? Und wie kommt es zur Welt, also aufs Papier?
Welche Übersetzungsarbeit muss geleistet werden, um ein Gedicht zu schreiben? Wie geartet müssen Materialien, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Emotionen, Inspirationen sein und auf welche inneren Strukturen, Zustände, Verfasstheiten und Verknüpfungen müssen sie in einem Menschen treffen, dass er oder sie Gedichte schreibt oder sie macht oder sie in ihn eingeschrieben werden?
aus dem außen ausnehmend hineinnehmen – aus dem innen innerlich herausgeben – mit durch und von allen sinnen hineintransformieren – ins innerste hineinerinnern – aufs äußerste herausveräußern ohne zu wissen wann und wo es begonnen hat – geschweige denn je enden wird durch meinen kopf hindurch – aus meinen gehörgängen heraus – in meine gehörgänge hinein – durch meinen kopf hindurch – aus meinem mund heraus – in meinen mund hinein – durch meinen kopf hindurch – aus dem hirn heraus – von der zunge auf die hand gelegt – übers gehör zurück ins hirn gedrückt – und vom hirn ins herz – und vom herz auf die nackte haut – und von der haut über alle zellmembranen ins mitochondrienkraftwerk der poesie – und wieder retour – und irgendwann dann von der hand zum stift aufs papier?
Keine eindeutigen oder allgemeingültigen Aussagen scheinen möglich oder auch sinnvoll. Kann man also über das Schreiben von Gedichten „angemessen“ sprechen? Vielleicht immer nur, wenn man poetisch über Poesie spricht? Oder gerade eben nicht? Allen Widerständen, Gefahren und innerem Zweifel zum Trotz will ich es hier an dieser Stelle versuchen. Wieder und wieder und immer wieder. In der Furche eine Furche, eine Mulde zu graben. Spuren zu hinterlassen und den Spuren auf der Spur zu sein. Vielleicht gelingt das, indem einzelne Gedichtbände genauer betrachtet, sie ins Gespräch gebracht werden, sodass sie wahrgenommen, gelesen und diskutiert werden können.
2022 habe ich die redaktionelle Arbeit und Moderation der Veranstaltungsreihe Dicht-Fest in der Alten Schmiede in Wien von Christine Huber übernommen, die dieses wunderbare Format viele Jahre lang auf so produktive und poetische Weise geprägt hat. DIE FURCHE hat mich eingeladen, diese Reihe mit der Vorstellung der dort präsentierten Bücher jeweils drei Wochen vorab zu begleiten. Ab nächster Woche werden Sie unter der Rubrik „ganz dicht“ kurze Hinweise auf jene Bände finden, die am 14. Februar Thema des Dicht-Festes sein werden. Mit zwei besonderen Gedichtbänden, die im Rahmen dieser Veranstaltung im vergangenen Jahr vorgestellt wurden, möchte ich diese Serie heute beginnen.
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https://www.furche.at/kritik/literatur/g...ht-ist-10180669
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