Ulrich Raulff : Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens
Ulrich Raulffs sehr schönes und sehr eigenwilliges „Wiedersehen mit den Siebzigern“
Neulich erstellte eine Menge Menschen bei Facebook eine Liste mit den für sie wichtigsten zehn Büchern, und man fand darin nur wenig Theorie. Fänden sich solche Listen aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, wäre das Bild wohl ein anderes. Wenn Ulrich Raulff in seinem wunderschönen kleinen Buch von den „wilden Jahren des Lesens“ erzählt, dann meint er zwar nicht nur Theorie. Er hat schon auch Belletristik gelesen, aber die dann mit „dem sachlichen Blick des Historikers oder Philosophen“. Umgekehrt las er die „wissenschaftliche Literatur mit den Augen des Ästheten“. Wer so las, landete im Strukturalismus, bei Roland Barthes, bei Michel Foucault, den Raulff ins Deutsche übersetzte. Außerdem hat sich der 1950 Geborene als Herausgeber einer ambitionierten Zeitschrift (Tumult), als Autor von Sachbüchern, als Feuilletonchef der FAZ und als Literaturchef der SZ einen Namen gemacht. Heute ist er Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach.
Die wilden 70er Jahre liegen da scheinbar weit weg. Und rücken doch näher, wenn man begreift, was Raulff in Paris fand, dem Sehnsuchtsort, den er als Student erobert. Paris wird ihm zur Stadt der Bibliotheken. Da ist natürlich die Bibliothèque nationale, aber am Sonntag, wenn alle anderen zu haben, auch die Bibliothek des Centre Pompidou. Es gab kein „Jenseits der Bibliotheken“, buchstäblich nicht, und metaphorisch erst recht nicht.
„Il n’y pas de hors-texte“ – ein Satz von Jacques Derrida, der den Sound jener Epoche bildete. (Sinngemäß: „Es gibt kein Außerhalb-des-Textes.“) Man glaubte damals „tatsächlich noch an den Wert von Begriffen“, es ging in Diskussionen immer ums Ganze, und sie dauerten nächtelang, so weit so bekannt, aber Raulff lernte noch etwas anderes. Er lernte zu lesen. Das bedeutet nicht einfach, dass er lernte zu „verstehen“. Es bedeutete vor allem weiterzulesen, wenn man nicht verstanden hatte, „in der Hoffnung auf kommende Dämmerung“. Und genau so hat man doch gelesen, zum Beispiel Adorno, „unbegriffen und in einem Vorschuss auf Sinn“.
Auch wenn Adorno nicht zu Raulffs Säulenheiligen zählte, in dieser Emphase des Lesens hat sich eine kollektive Erfahrung ins Buch „eingeschrieben“, wie man damals gesagt hätte. Auch mit Jargon musste man lernen umzugehen.
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