Heike Geißler: Die Woche
Beim Ingeborg-Bachmann-Preis im letzten Jahr erntete Heike Geißler für ihr Manuskript "Die Woche" viel Kritik. Unsere Rezensentin hält das fertige Buch nun für das vielleicht beste, das wir im Augenblick lesen können.
In dem Film "Und täglich grüßt das Murmeltier" spielt Bill Murray einen Fernsehreporter, der immer am gleichen Tag erwacht - dem Tag, an dem ein Murmeltier namens Phil seinen Auftritt als Wetterprophet hat.
Die Ich-Erzählerin in Heike Geißlers Roman "Die Woche" macht eine ähnliche Erfahrung. Es ist der Montag in Leipzig, den sie und ihre Freundin Constanze nicht loswerden. Es ist der Tag, an dem die Legida-Demonstrationen, überwacht von Polizeihubschraubern, das Straßenbild mit einer Drohung von Krieg aufladen. Mit dem Knick in der Zeit geht für die zwei Freundinnen ein Knick in der Wahrnehmung einher. Ihre Privatnotstände - man will sie aus ihrer Wohnung werfen und die Ich-Erzählerin sorgt sich um die schulpflichtigen Kinder - stehen mit einem Mal in direkter Verbindung zu den globalen Katastrophen.
Wir schicken eine Forderung an jede Narbe, jeden Kriegsschauplatz und jeden Verhandlungstisch der Welt: Es darf kein Kind sterben. Wie kann man das sagen, dass es nicht pathetisch klingt?
Das Unsichtbare Kind sagt: Ich habe die Lösung, du erfährst sie nach meiner Geburt.
Das Unsichtbare Kind tritt an die Erzählerin, "eine Frau von Vierzig Jahren", heran, mit dem Wunsch, geboren zu werden. Es stellt die Antwort auf alle Fragen und Weltfrieden in Aussicht. Dazu gesellt sich ein relaxter Tod, der gerne Fernsehen schaut und sich mit den Kindern verbündet. Nebenan ziehen verdächtige Riesen ein. Die Freundinnen üben den Aufstand der "proletarischen Prinzessinnen". Dabei denkt die Erzählerin an alle Schlupflöcher der Verdrängung. Im Mittelmeer kann sie nur die gescheiterte Europapolitik erkennen, die großen Kriege schießen auf ihre dann möglicherweise wehrpflichtigen Söhne zu. Constanze hingegen entwirft praktische Kursangebote.
Während die Woche stagniert, marschieren Heike Geißlers Sätze mutig voran. In einem Spiel mit der widersprüchlichen Logik der Empfindungen dekonstruieren ihre märchenhaft-zupackenden Sätze nicht nur gut gehütete Gewissheiten, sondern auch das Erzählen selbst.
Wir wollten doch gerade über Inhalte reden, da kam uns jemand viel zu nah und fasste unseren Erinnerungen in den Schritt.
Heike Geißlers Sprache leistet dem vorauseilenden Denken Widerstand. Der gesamte Roman liest sich wie eine Aufforderung, unsere Gegenwart genau zu betrachten und auszusprechen, was wir da sehen. Dafür wählt die Autorin eine noch immer unterschätzte Perspektive: In der Tiefe dieses düsteren Textes rumort die schöpferische Kraft einer Mutter. Das ist nicht kitschig, sondern essentiell.
Und ich rief nicht, und ich brüllte nicht, aber ich wollte sagen: Man muss das Leben sein an der Seite des kranken Kindes, man muss die Lebensfäden um sein Bett spinnen, so dicht es nur geht. Man macht das ohne Unterlass und glotzt keine traurigen Löcher in das Gewebe. Man macht das so wie die Oberärztin, die die Seilbahn meines Sohnes um die Transfusionsständerhaken und um den Ständer mit der Medikamentenpumpe wickelte, um dem Kind eine Freude zu machen. Ja, ein ganzes Königreich für eine Freude.
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https://www.ndr.de/kultur/buch/tipps/Die...iewoche114.html
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