Neige Sinno: „Trauriger Tiger“
Wie Lolita in der Falle
Von Christoph Vormweg
Das Thema sexueller Missbrauch in der Familie ist lange tabuisiert worden. In ihrem
Buch „Trauriger Tiger“ – verkaufte Auflage in Frankreich: über 300.000 – beschreibt
die 1977 geborene Neige Sinno das lebenslange Drama des Opfers. Dabei ist das
Buch, das weder Roman noch Sachbuch ist, zuvor von vielen Verlagen abgelehnt
worden.
Warum, fragt sich Neige Sinno, hat ihr Stiefvater sie als Kind jahrelang sexuell missbraucht?
Warum nicht ihre Schwester? Und warum hat ihre Mutter nichts gemerkt? In dem
verstörenden autobiografischen Bericht „Trauriger Tiger“ sehen sich Leserinnen und Leser
ständig mit solchen Fragen konfrontiert. Die Französin Neige Sinno hat ihn als Mittvierzigern
geschrieben: in ihrer Wahlheimat Mexiko, als Mutter einer 12-jährigen Tochter. Die vom
Stiefvater erlebte Gewalt erkundet sie zum einen als Opfer, zum anderen als Leserin. Sie
konfrontiert ihre persönlichen Erfahrungen mit den Erkenntnissen von Psychologen oder mit
literarischen Darstellungen wie der von Vladimir Nabokov in seinem legendären Roman „Lolita“.
Die Wucht von Neigo Sinnos Prosa zeigt sich gleich inden ersten Sätzen:„Auch mich interessiert im Grunde vor allem das, was im Kopf des Täters vor sich geht. In die Opfer können wir uns alle hineinversetzen, das ist leicht. Auch wenn wir es nicht selbst erlebt haben – eine traumatische
Amnesie, die Schockstarre, das Schweigen der Opfer –, so können wir uns doch alle vorstellen, wie es ist, zumindest glauben wir das.
Der Täter ist da schon etwas anderes. Mit einem siebenjährigen Kind allein in einem Zimmer sein, eine Erektion bekommen beim Gedanken an das, was man ihm antun wird. Die Worte aussprechen, die bewirken, dass dieses Kind sich nähert […] Und ist dieser Wahnsinn erst einmal geschehen, es immer wieder tun, und zwar über Jahre.“
Weiterlesen:
https://bilder.deutschlandfunk.de/9d/c7/...r-tiger-104.pdf
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