Spaziergang
Der Backensteig ist eine etwas siebzig Meter steile Steintreppe, die nach unten auf eine Straße führt, irgendwohin in ein Wohnviertel. Ich bin noch nie hinuntergegangen, weil ich es nicht wieder zurückschaffe. Wenn ich da also hinuntergehe, dann nur ein einziges Mal, denn ich kann nicht mehr zurück.
Unten ist die Siegesmundstraße, wie ich feststelle. Und natürlich geht sie, wie alle Straßen, auf der einen Seite bergauf und auf der anderen bergab. Bergab würde ich irgendwann in die City kommen. Aber ich will nirgends hin, ich war schon überall.
Ich gehe bergauf, schaffe etwa hundertfünfzig Meter, links geht noch eine Seitenstraße ab. Ein „besseres“ Wohnviertel, „besser“ sind dabei nur die Häuser.
Ich bleibe stehen, weil ich stehen bleiben muss. Der Schmerz fährt durch beide Beine, sammelt sich in den Waden, alle Kraft wird aus dem Körper gezogen. Ich spüre, wie das Blut im Kopf weniger wird.
Ich schaue die Straße hinunter und sehe mich unten stehen und mich beobachten. Ich schaue rechts die Straße hinauf, die Straßen, die immer vor mir verschwinden, die ich nie zu Ende gehen kann, und sehe mich auch oben auf mich herabschauen.
Was mache ich jetzt?
Die Verzweiflung habe ich längst in den alten Tagen gelassen, die Wut über die Hilflosigkeit auch, die Gleichgültigkeit jetzt ist angenehm.
Eine schwarze Wolke über den Häuserblocks schwebt langsam heran. Könnte ich sie anschreien, würden meine Worte nur bis zu den Dächern kommen. Nirgendwohin reicht mein Wort. Ich schreibe Lieder, aber sie können nicht singen. Meine Schreie sind immer ohne Stimme. Und ich habe schon oft geschrien..
Nach ein paar Minuten gehe ich weiter bergan. Diesmal schaffe ich etwa hundert Meter, bis ich mich nicht mehr wehren kann. Ich weiß, dass ich mir von fern selbst zusehe. Das macht mich krank, meiner eigenen seelischen Nacktheit ausgesetzt zu sein. Nicht das dämliche Stehen und so tun, als schaute ich mir etwas an, nicht diese geleckte Vorzeigegegend mit dem penetranten Glockengeläut im Hintergrund, dieser Geruch der Verlogenheit, dieses Wahrnehmen der endlichen Welt, diese erbärmliche Trostlosigkeit, dieses elende Fremdsein, nein, ich selbst bin es, der mich ankotzt.
Mir ist kalt. Ich fürchte mich vor dem Sommer, vor dem Mitleid, vor den Nächten, vor der Unaussprechlichkeit.
Ich könnte den Schmerz ignorieren und weitergehen, ich muss es oft tun. Bestenfalls würde ich umfallen und in die Hände weißer Kittel fallen, in deren unfähiger Oberflächlichkeit, müsste mich dankbar zeigen, obwohl mir zum Kotzen wäre. Ich bin einer von denen, die es nur gibt, damit es den anderen gut geht. Aber ich darf nicht aufmüpfig werden, keinen eigenen Willen haben. Jeder nimmt von mir nur das, was er braucht. Niemand braucht alles, ich soll es nur glauben. Die Ärzte nehmen von mir nur das, was sie abrechnen können und ich bekomme einen Katalog Diagnosen dafür. Das nützt mir nichts, aber ich war einen Moment nützlich.
Und nun stehe ich hier und warte auf den Zorn.
Er kommt immer, wenn mir alles durch den Kopf geht. Aber diesmal nicht. Ich bin überrascht, wie viel ich von meiner eigenen Gleichgültigkeit ertragen kann. Aber ich schreibe ja auch das meiste für meine Schubladen, ich frage kaum noch und vor allem schaue ich nicht mehr hin. Ich schaue die Dinge nicht mehr an, die mir wehtun. Ich registriere sie nur noch, so wie die Souveränität und die scheinbare Überlegenheit der anderen.
Ich gehe wieder ein paar Schritte, ich weiß im Voraus, wie weit ich komme. Ich weiß, wie und wo es endet, ich weiß nur nicht wann. Wenn es mir reicht, so wie heute, wenn mir danach ist, spontan, von einem Augenblick zum anderen.
Eine U-Bahn-Station, nicht eine, sondern die nächste. Fast erleichtert registriere ich sie. Glück gehört nicht gerade zu den Dingen, die mir täglich begegnen, obwohl ich nicht unglücklich bin.
Die Dinge, die fressen sollen, die fressen halt.
Ich muss also nicht irgendwohin und nicht wieder zurück.
Ich muss gar nichts. Nicht ich muss mich daran gewöhnen, sondern die anderen.
Sirius
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Mir gefällt die Sprache zwischen deinen Zeilen, Sirius, deine Art sie auszudrücken.
Das verdrängen der Hilflosigkeit, das weiterschleppen - ohne wirklich aufzugeben.
Die Schrecken des Alters...
Jonny
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Herzlichen Dank, Jonny! Ab und zu muss ich auch mal jammern. Und die Gebrechen des Alters kommen erst noch..
Sirius
Reset the World!
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Wir sind da sicher noch weit entfernt von, Sirius.
Aber davor hätte ich wirklich Angst. Obwohl ich nicht so schnell weiche Knie bekomme.
Ich seh so oft Menschen hinterher, die sich durchs Leben quälen...
Jonny
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Diesen Text habe ich schon heute Morgen um 7 Uhr gelesen, seitdem schleppe ich ihn mit mir herum. Literatur, über die ich später einmal bitterlich weinen werde, das ist sicher.
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Na da hast du aber was angeschleppt, Sirius.
Kopf hoch, auch wenn der Hals schmutzig ist!
Menno, zuviel+ ist auch nicht gut.
Leo seufz...
Schreiben macht schön.
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Eigentlich habe ich einen flotten Schritt. Aber ich hatte mal ein Aneurysma im Kopf und als Folge davon habe ich Durchblutungsstörungen in den Beinen, die von einem Verschluss im Bauch ausgelöst werden. Das war jedenfalls gerade der CT-Befund. Ich habe schon zwei Stents in den Beinen und rauche.
Ich habe Hoffnung, dass ich nach einer baldigen OP, wenn der Verschluss entfernt wird, wieder vernünftig laufen kann.
Aber die Plaque ist auch im Hals und Ende Juni habe ich einen Termin beim Kardiologen. Herzgefäße..
Wenn ich also bergauf gehe, ist nach wenigen Metern Schluss, weil die Schmerzen nicht mehr ertragbar sind. Und ich war früher mal Bergwanderer!
Es gibt keine Tabletten dagegen, außer Blutverdünner, man muss viel rauchen, schimpfen und marschieren, dann hat man es bald hinter sich.
Vielen Dank, Richard!
Sirius
Reset the World!
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Sirius, du alter Zyniker....
Der Text ist toll, der innere Dialog greif- und vor allem fühlbar....
Übrigens ...es gibt auch nette einfühlsame Ärzte, habe ich mir sagen lassen...nur so als Tip!
Frolleingrüße
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Ja, die gibt es, liebes Frollein. Nur habe ich nicht die Leiden, die jene behandeln.
Entweder sucht man sich die Ärzte aus oder die Krankheit. Beides miteinander ist selten kompatibel.
Bei Kopfschmerz besser gleich zum Friedhof.
Ich danke dir sehr herzlich für dein Lesen und den Kommentar!
Sirius
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Das ist hart, Sirius.
Habe nicht gedacht, dass dein Text sich auf dich bezieht.
Was soll ich sagen, kann dir nur von Herzen Besserung wünschen...
Jonny
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Ist schon gut, Jonny. Ein jeder hat halt seine Probleme. Ich wäre schon froh, wenn man mich nicht ständig verarschen würde.
Dankeschön.
Sirius
Reset the World!
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