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RE: Der Verlust der Gegenwart

#1 von Karl Ludwig , 10.04.2018 07:48

Wir Alten, – na ja, vielleicht auch nur ich, leben äußerlich im Hier und jetzt, und das kann jeder Beobachter bestätigen, der nicht an Einstein glaubt. Was der subjektive Beobachter jedoch nicht sieht, sind die Tempussprünge in der Wahrnehmungswirklichkeit des beobachteten Objektes: Wir – na ja, vielleicht auch nur ich, erinnern uns gerne an eine weit überschätze Vergangenheit und denken angstgrinsend an die vermutlich katastrophale und letztendlich finale Zukunft. Die Gegenwart nutzen wir – na ja, vielleicht auch nur ich, im Prinzip bloß noch, um die Körperfunktionen halbwegs am Laufen zu halten, was die dazugehörigen Organe allerdings nicht daran hindert mit weiterer Materialermüdung auf die Dauernutzung zu reagieren.

Ich rede nicht mit Menschen meines Alters über darüber und die reden meistens auch nie über den Verlust ihrer Gegenwart. Sie bemerken es vielleicht auch schon gar nicht mehr. Die Gegenwart ist uns allen, – na ja, vielleicht auch nur mir, einfach bloß anstrengend und langweilig in ihrer permanenten Wiederholung geworden, also halten wir uns häufig in der Vergangenheit auf, schämen uns unter Umständen sogar, – na ja, vielleicht auch nur ich, denken darüber nach, ob wir gerade für unsere Sünden bezahlen und ob diese Zumutung eventuell etwas mit dem Fegefeuer zu tun haben könnte, in dem die Seele (zu spät) auf Anstand geschmiedet wird, und dann wenden wir uns schnell und schaudernd von dem enttäuschenden Präsens ab und begeben uns wieder auf Zeitreise:

Als Bewegung überhaupt keine Anstrengung war, die Zukunft noch vor einem lag, und die Mädchen mehr sexy waren als fett und mit Schweinemasken. Bedauern? Das wäre weit unter jeglicher Würde. Nur Idioten regen sich über Naturgesetze auf und nehmen sie persönlich. So jedenfalls sollte es sein. Leider ist es aber etwas anders. Stimmt's?

Aber ansonsten kommt da wohl nichts mehr. Vermutlich wird man sich nostalgisch verklärt an die jetzige Gegenwart zurück erinnern, bevor es dann tatsächlich zur Sache geht. Womit wir zum zweiten Daueraufenthaltsort der Kognition kommen: Der Zukunft. Und diese kann ja gar nicht mehr besser werden, zumindest nicht bei Menschen im Rentenalter. Und jedem, der eine andere Meinung vertritt, kann ich nur zu seinem Talent der Selbstverarschung beglückwünschen.

Bloß, wo treibt sich die Gegenwart herum? Sie kann doch nicht nur bestehen aus Toilettengängen im Zehnminutenabstand, Kratzen am Arsch (ja-ja, andere kratzen sich am Kopf, mir aber steht der Arsch näher), Niesanfällen, Nase putzen, Haare kämmen, Husten, tränende Augen mit Papiertüchern auswischen, bevor das Salz eintrocknet und unangenehmes Brennen verursacht, Zähne bearbeiten, duschen, Wäsche wechseln, Salben auf kleine Flechtenkolonien schmieren, Fingernägel auf Gitarrengriffigkeit schneiden, Arztbesuchen, Einkauf, Schmerztabletten …

Komisch ist das ja alles.

Altersmilde? = Gerücht! Ich kenne nur Alterborniertheit.
Abgeklärtheit? = Wunschvorstellung. Sind alle lauter und laute Hysteriker.
Lebensabend genießen? = Werbebroschüre für eine Altersversicherung.
Womöglich im Kreise seiner Familie? = Bloß nicht!!!

Mein weiterer Traum in diesem Traum?

Ich will eine Gegenwart zurück, die sich neu, unverbraucht und erwartungsvoll präsentiert. Welche jeden Tag mit neuen Abenteuern aufwartet. Die Hoffnung und das Versprechen von Echtheit in sich trägt. Und natürlich will ich auch stark genug sein, so etwas auch zu ertragen.

Na ja, vielleicht wünscht sich auch nur ich so etwas …

Und hier mein Motiv für diesen Beitrag: Die letzten zwei Jahre überfielen mich Erinnerungen wie Ohrfeigen. Ständig stroboskopierten vergangene Momente, in denen ich einfach nur bescheuert peinlich war. Davon bin ich inzwischen fast geheilt, besten Dank aber auch, denn nun fallen mir statt dessen Momente ein, in denen ich nicht nur dumm und gedankenlos war, sondern bösartig und unfair.

Gott sei Dank habe ich, bis auf ein einziges Mal, nie etwas WIRKLICH Schlimmes angestellt. (Da habe ich in Goa und im Wahn ein kleines, neugieriges Mädchen angefixt)

Wenn ich an so etwas denke wird mir Heiß und Kalt, ein leises Wimmern sucht den Ausgang aus dem Hals und der Seele, der Magen verkrampft sich usw., meine Güte, manchmal ist eine gewisse Vorstellungskraft auch lästig, und ich würde allen Betroffenen liebend gerne sagen, wie leid es mir tut, und dass ich dafür mit Scham in einem persönlichen Fegefeuer bezahle. (Allerdings, ernsthaft Danke! nicht rund um die Uhr.)


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RE: Der Verlust der Gegenwart

#2 von Sirius , 10.04.2018 21:23

Ach, Karl-Ludwig, du bist nicht der einzige, der so viel aufzuarbeiten hat.
Und ich würde mir auch die Gegenwart abenteuerlicher wünschen. Was noch an Zukunft bleibt, scheint eher trostlos. Kann man denn selbst noch Entscheidungen treffen?
Wir können uns nur an den eigenen Humor hochziehen, einfach alles um uns rum verleugnen und unangepasste "Elemente" bleiben, mal ein paar Ölsardinen panieren, aus Reiswaffeln leckeres Mett machen, ein Glas Wein suppen und seufzend an Dinge denken, die man machen könnte, wenn man dürfte.
Alt werden ist nichts für Feiglinge (Fuchsberger) und richtig alt will ich nicht werden.
Wäre ich befugt, ich würde dir alles verzeihen, aber das musst du schon selbst machen.
Die Dinge bereuen ist eine Strafe, die sehr lang ist.

Sirius


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RE: Der Verlust der Gegenwart

#3 von Karl Ludwig , 13.04.2018 07:07

Dieses 'Älter werden ist nichts für Feiglinge' haben schon Viele von sich gegeben, (ich hörte es zuerst von Bette Midler) nur, wenn man drüber nachdenkt, ist der Spruch doch wohl wenig wert, denn wir werden nicht aus Mut älter, sondern aus Mangel an Alternativen, womöglich aus reiner Gewohnheit. Und vielleicht auch aus Feigheit?

In der Retrospektive ist mir mir mein ganzes Leben manchmal wie ein einziger Tag. Die Erinnerungen machen keinen Unterschied mehr zwischen Gestern und 'Ewig lange her'.

Der Verlust der Gegenwart. Das Jetzt verwischt sich zu einem einzigen Konglomerat von widerwillig ausgeübten, aber notwendigen Handlungen, um überhaupt noch über die Runden zu kommen. Der Geist weilt meistens woanders, versucht den Ansturm von peinlichen Erinnerungen mit Träumereien auszubremsen, weiß dabei aber zu genau, dass er sich bloß Einen vorlügt, und das hat wohl wenig mit dem einst angestrebten Ziel zu tun.

Außerdem klappt es selten, denn das Gewissen ergeht sich in Hyperaktivität: „Und was hattest du dir dabei gedacht, als du …? Vermutlich gar nichts. Du bist einfach davon ausgegangen, dass du alles darfst, sogar Kant ignorieren, sobald es dich selber betrifft.“

In der Kommunikation bin ich außerdem oft schwer und ängstlich damit beschäftigt, den Wahnsinn in den Köpfen der Anderen nicht mit seinem eigenen Wahnsinn zu vermischen.

Kein Blick zurück im Zorn, höchstens etwas gezwungen-mildes Lächeln ob meiner menschlich, allzu menschlichen Menschlichkeit, und wenn die Anderen ähnlich schräg funktionieren sollten, wovon auszugehen ist, dann aber gute Nacht.

Sechs Uhr Morgens. Noch zu früh für 'Gute Nacht'!


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