Nur einer kommt hier lebend heraus
In seinem Roman „Mein Ein und Alles“ seziert Gabriel Tallent die komplexen Mechanismen einer psychopathischen Vater-Tochter-Beziehung. Brillant, aber nichts für schwache Nerven.
Dasselbe Ritual wiederholt sich jeden Morgen in dem einsamen, verfallenen Haus am Hügel. Julia, genannt „Turtle“, 14 Jahre alt, Halbwaise, steht auf, steckt sich ihre Pistole hinten in den Gürtel, lässt das weite karierte Hemd darüberfallen, geht in die Küche, trinkt zwei rohe Eier und wirft ihrem Daddy ein Bier zu. Dann sagt sie ihm, dass er sie nicht zum Schulbus begleiten müsse. „Ich weiß“, sagt er, steht auf und geht mit.
Denn Martin Alveston wird seine Tochter niemals allein irgendwohin gehen lassen. Er ist ein charismatischer Hillbilly mit ausgeprägtem Verfolgungswahn, ein Waffennarr mit Weltuntergangsfantasien, ein Soziopath, dessen kontrollierende, neurotische Liebe sich nach dem Tod seiner Frau ganz auf seine Tochter fixiert hat.
Der junge amerikanische Autor Gabriel Tallent seziert in seinem gefeierten Debütroman „Mein Ein und Alles“ die komplexen Mechanismen einer psychopathischen Vater-Tochter-Beziehung, und zwar aus beiden Blickwinkeln. Martin Alveston hat seiner Tochter über die Jahre sein Brandzeichen aufgedrückt – physisch wie psychisch. Er hat ihr seine menschen- und frauenverachtenden Anschauungen ebenso eingeträufelt wie er ihr körperlich seinen Willen aufzwingt, und zwar in jeder Hinsicht. Dieses Verhalten maskiert er als Liebe. Sie sei sein Ein und Alles, sagt er Turtle immer wieder, sein Leben, das Schönste auf der Welt. Und dass er sie niemals gehen lassen wird. Um das Mädchen unauflöslich an sich zu binden, demütigt er sie gleichzeitig, raubt ihr jeden Selbstwert und versucht ständig, sie zu brechen.
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