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RE: Der alte Mann erzählt

#1 von Karl Ludwig , 27.01.2016 05:21

Liebe Kinder,

als ich noch jung und dumm war, so wie ihr heute, nannte man es wild und mutig. Momentan bin ich ja selber alt und dumm, aber die Erinnerungen an jene Jahre sind mir noch immer frisch und gegenwärtig. Also lasset uns eine gemeinsame Reise in die „Frühe Zeit” machen, an die Schauplätze längst geschlagener Schlachten mit längst vergessenen Helden und Schurken, lasset uns heraufbeschwören die Jahre, als die Zukunft nahe, die Gegenwart neu und die Vergangenheit so tot war, wie es sich für die Vergangenheit auch gehört. Außer dieser:

Bielefeld Anno 71. Deutschland stand unter Strom, jedenfalls das Deutschland, welches ich wahrnahm. Eigentlich hatten wir ja schon gewonnen. Die Meinungen über den bewaffneten Widerstand waren in unseren Kreisen geteilt, die über Drogen nicht. Wir kifften alle sehr konspirativ, der verhassten Staatsmacht sollte keine Gelegenheit gegeben werden politischen Widerstand mit einer Drogenaffäre zu verbinden. Auf der Johanneslust, einer autonomen Kneipe mit integrierter Wohngemeinschaft, ging es bei den Versammlungen hoch her; wir machten alle einen Riesenuffnik um unsere anarcho-revolutionären Standpunkte. Katrin, eine der Bewohnerinnen, war pro forma sogar mit Thomas Müller verlobt, damit dieser öfters Urlaub aus dem Hochsicherheitstrakt in Brackwede genehmigt bekam. Dann trank er seine Biere auf der Lust, immer umgeben von Beta-Männchen und -Weibchen, denen er von davon erzählte wie großartig sein Anteil am gewaltsamen Umsturz des Schweinesystems sei.

Er war aber nur ein Arschloch! Seine Beiträge im Kampf um eine bessere Zukunft waren bislang nur zwei gewesen. Nämlich erstens, sich vor der Zahlung von Alimenten zu drücken und zweitens, eine total überflüssige Schiesserei mit einigen Zivilpolizisten anzuzetteln, welche unabsichtlich im gleichen Imbiss neben ihm und völlig friedlich ihren Kaffee tranken. Dadurch hatte er sich Beischlafrecht bei dem weiblichen Teil der politischen Groupies gesichert.

Aber Katrin war eine interessante Frau. Jurastudentin, taktische Ratgeberin vor politischen Prozessen, eine Joan d’Arc der Kneipe, 27 Jahre alt, hochintelligent und sehr attraktiv. Ich bekam mit, dass sie sich gerade in der Schlussphase einer recht undankbaren Beziehung mit einem Trinker befand und machte ihr einen Antrag. Sie akzeptierte, ich spielte ja nun nicht gerade eine untergeordnete Rolle in der Szene und damals, mit 21 Lenzen war ich ein charismatischer junger Mann mit so einem anknipsbaren, sardonischen Lächeln und einer Figur die jeden Apoll hätte neidisch vom Olymp herabsteigen lassen und... Da lacht doch wer? Etwa gequält?

Ihr Exlover Bernd flippte aus! Morgens um sieben schon Bacardi-Cola und anschließend Stress bis zum Erbrechen. Die Zärtlichkeiten zwischen Katrin und mir wurde immer überschattet von der Befürchtung, dass dieser Idiot reingeplatzt kommen könnte. Ich kloppte ihm einen vors Kinn, verstauchte mir dabei die Musikerhand, hat nix genutzt. So ist eine wirkliche Entspannung natürlich äußerst schwierig zu erreichen und ich fing langsam an, ernsthaft sauer zu werden.

Einen Streifenwagen, den die Bullen unvorsichtigerweise in der Nähe der Lust geparkt hatten, fanden die Beamten bei ihrer Rückkehr auf dem Dach liegend vor. Sie griffen sich den erst Besten um ihn einem leicht verschärften Verhör zu unterziehen. Bernd dachte wohl, dass es gut wäre sich einmal den ganzen Druck von der Seele zu reden, zu unser aller Entsetzen.

Alles, aber auch wirklich alles gab er zu Protokoll. Und noch einige Sachen zusätzlich, von denen wir selber keine Ahnung hatten. Die Ermittlungsbehörden müssen sich wie Weihnachten gefühlt haben: Vorladungen, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen, Verhöre, Haftbefehle, erkennungsdienstliche Behandlungen; fast jeder bekam ein Stückchen vom Kuchen ab. Wie nach einem Wirtschaftsförderungsprogramm stiegen die Umsätze der Wirte, Anwälte, Apotheker, Drogendealer, Psychiater, Zeitungsverleger und Reisebüros in Bielefeld steil nach oben.

Aber da lag auch etwas wie Mord in der Luft als unser aller Bernd wieder auftauchte - er schien es nicht zu merken. Vielleicht genoss er sogar seine Judasrolle. Er stand, vielmehr hing, als ob nichts geschehen wäre vor dem Tresen, wir wussten nicht so richtig mit diesem Problem umzugehen. Es bestand dringender Handlungsbedarf; die Aussagen MUSSTEN zurückgezogen werden, also zerrte ihn Katrin wie eine Hündin ihren Rüden im Schweife ihrer Pheromone zum Rechtsanwalt. Bernd aber bockte; es lief auf emotionale Erpressung hinaus: „Komm zu mir zurück, oder ganz viele Leute werden leiden.”

Die Hausversammlungen gaben nichts her. Jeder wollte einen neuen Aspekt aufzeigen, alles wurde zerredet, bis niemand mehr die Traute hatte überhaupt etwas zu unternehmen. Thomas Müllers Lösungsvorschläge hatten etwas zutiefst blutrünstiges an sich, waren aber leider nicht durchführbar. Bürokraten, Haarspalter, Laberköppe, Komiteemitglieder und Prinzipienreiter - in der Welt möchte ich nicht leben, wo solche Typen das Sagen haben.

Mich zog es in das Stammlokal vom 1.M.C.B. „Erster Motorradclub Bielefeld” in „Klein Korea”, eine Proletensiedlung neben der Autobahnauffahrt, wo Theo als Rockerkönig das Gesetz der Strasse repräsentierte. Pittoreskes Lokalkolorit. Seine Gang konnte ziemlich unangenehm werden. Selbst die Exekutive hielt sich sehr zurück, nachdem einige ihrer Vertreter den Fehler gemacht hatten die wahren Machtverhältnisse zu verkennen und grün lackiert aber ansonsten nur leicht verbeult zu Fuß zum Abbeizer laufen mussten. Doch an mir hatte Theo einen Narren gefressen und auch an der Johanneslust. Ihm waren, wohl zum ersten Mal in seinem Leben, von latenter Gewalt befreite Momente mit uns im Garten passiert; - für ihn waren wir Spinner, aber Spinner von der liebenswerten Sorte. Als ich durch den Eingang trat verstummten sämtliche Unterhaltungen; tausend Köpfe drehten sich in meine Richtung und neunhundertneunundneunzig Augen blickten mich so freundlich an wie eine Armee Kreuzritter jenen Sarazenen, den sie beim Schänden der Marienstatue ertappt hatte. Fünfhundert Hände griffen nach Schnappmessern, Totschlägern, Fahrradketten, Handfeuerwaffen, Flammenwerfern, Panzerfäusten...! „Theo ist mein Freund”, dachte ich, „wenn ihr mir was tut gibt's Haue.” Ich blinzelte mich höflich zur Theke durch und legte brav beide Hände aufs Barbrett: „Ein Bier, bitte!”; genauso gut hätte ich Lepra haben und einen Beischlaf verlangen können. Wie gaben sich wohl die Mitglieder des inneren Zirkels zu erkennen? Ich weiß doch nichts über die Riten in solchen Kreisen. „Ist Mark Anton da?” Plötzlich stand ein Bier vor mir, Theos echter Name lautet nämlich Anton Heinz-Markus, den Namen Theo hatte er sich selber gegeben und den wirklichen, in der Geburtsurkunde vermerkten, durften bei Androhung der sofort zu vollstreckenden Todesstrafe ausschließlich nur seine Mutter oder Brüder verwenden. Aber Theo kam auch schon auf mich zu, alleine dieser Anblick konnte Menschen Gott wieder nahe und zum Beten bringen. Welche Ehre, er schlug mir die Schulter zu Boden und deutete mit dem Daumen in den hinteren Teil des Lokals: „Ka -el., was treibt dich denn zu den Verfemten, lass uns zu die Jungs setzen.” 500 Waffen wurden weggepackt, ich legte einen Hundertmarkschein auf den Tresen: „Lokalrunde!”, Theo stopfte ihn mir in die Tasche, ich kramte ihn wieder hervor, er steckte ihn zurück und meinte: „Nicht nötig, der Laden hier gehört mir.”

Wir wurden uns schnell handelseinig, für mich natürlich umsonst, das wäre doch selbstverständlich. Aber die Hälfte als Anzahlung. Ich lachte erleichtert und dann feilten wir alle gemeinsam am Detail.

Am nächsten Abend, Bernd schielte gehässig auf Katrin, welche immer noch bemüht war ihn mit Vernunft zu erreichen und zur Rücknahme der Aussagen zu bewegen, setzte ich mich mit Hartmut aufs Klavier; von da aus gab's nämlich den besten Überblick und wir grinsten uns einen. Ich hatte ihm ein Schauspiel versprochen, und was jetzt kam war wirklich eines von der Sorte: Kamera drauf und ohne Schnitt senden:

Zuerst Motorräder. Mindestens dreißig Stück fahren vor. Laut! Sehr laut! Die Motoren werden nicht abgeschaltet. Etwas, was sich normalerweise nur im Zoo und hinter dicken Eisenstangen oder auf Borneo durchs Sein hangelt kommt rein, stellt sich neben Bernd, verlangt nach Bier. Aber fix bitte, man wolle sofort weiter. Zur Dümmer Talsperre, Fleisch grillen. Dann, Gluck, Glas halb leer, plötzlich in Richtung Bernd: „Willst'e nicht mitkommen? Wir bleiben drei Tage und fahren anschließend weiter nach Hamburg.” Bernd zögert. Ein Witz? Irgendetwas stimmt hier nicht, aber was? Lieber ein indirektes Nein: „Und wie komme ich dann wieder zurück?” Ach was, darüber solle er sich mal keine Gedanken machen, Gluck, Glas ganz leer, 5,-- DM auf den Tresen - Rest für die Kaffeekasse, ein Baggerarm legt sich kameradschaftlich auf Bernds Schulter, fünf hydraulisch betriebene Greifer packen zu und die Zwei gehen - der Beginn einer wunderbaren Freundschaft - gemeinsam raus. Das Ganze hatte höchstens 50 Sekunden gedauert. Alle stürzen zu den Fenstern. Staubwolke, Schemen, Benzingestank, aufbrüllende Motoren und weg sind sie. Hartmut und ich geiern los. Der Rest guckt verstört.

Katrin kommt auf mich zu: „Euer Werk?”. „Nöhöhöhöhö!”. Ob man nicht die Polizei rufen sollte. Die WAS? Dann könne man eben nur abwarten. Und bis zum Gegenbeweis wäre doch wohl erst mal alles in Butter, oder?

Zehn Tage später stellte sich überraschender Weise heraus, dass nach Paragraph wasweissich Absatz soundso unser aller Bernd unzurechnungsfähig war wegen Geistesschwäche aufgrund einer Alkoholsucht. Entsprechende Unterlagen legte sein Anwalt vor. Sämtliche Verfahren platzten, weil die Generalbeichte nichts mehr wert war. Bernd unterzog sich einer Entziehungskur und Katrin und ich konnten uns zum ersten Mal richtig entspannen. Nur Thomas Müller schmollte.

So, Kinder, putzt euch nun brav die Zähne und ab geht's husch, husch in die Falle. Morgen gibt's dann wieder ein Märchen.


Zehn Weise können nicht einen Idioten ersetzen!

Karl Ludwig  
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RE: Der alte Mann erzählt

#2 von Sirius , 28.08.2018 21:12

Sirius

Das ist zum Lesen zu lang, deshalb gab es keinen Kommentar. Aber du weißt nun, dass du außerhalb Tacheles eine große Leserschaft hast, die alle artig deinen Beitrag angeklickt haben, vemutlich alles gleichaltrige Alt-68er, denen du mal die Frau weggenommen hast.

Die Geschichte selbst erinnert mich an die Zeit, in der ich selbst meist unter dem Klavier geschlafen habe, aber das ist heute auch noch so.
Das Finale vom Bernd erinnert mich ein wenig an Babs´ Bodo, nur dass Bodo sich mit einem Doppelten begnügt und nicht täglich bis zur Bewusstlosigkeit abgefüllt wird.
Für Kinder der richtige Einstieg in die Erwachsenenwelt. Wahrscheinlich haben sich hier auch sämtliche Pfadfindergruppen heimlich eingeschlichen und deinen Aufklärungsbeitrag verlinkt.
Und toll geschrieben ist er außerdem.

Sirius


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