„Das Desaster der Deutschen Bahn ist kein Versehen“
Seit Gründung der NachDenkSeiten ist die Entwicklung der Deutschen Bahn eines unserer wichtigsten Themen. Auch der Journalist Arno Luik beschäftigt sich seit vielen Jahren kritisch mit der Deutschen Bahn. Nun hat er seine Recherchen in einem Buch veröffentlicht. Im Interview mit den NachDenkSeiten betont Luik, dass die desolate Situation der Bahn nicht auf unglückliche Fehlentscheidungen zurückzuführen ist. Unter Schützenhilfe der Politik haben, wie er sagt, „Täter“ die Bahn schwer beschädigt. Das milliardenschwere Projekt Stuttgart 21 „mit seinen explodierenden Kosten“, sagt Luik, „gefährdet nun faktisch die Existenz der tief verschuldeten Bahn.“ Von Marcus Klöckner.
Herr Luik, wenn man sich die Werbeplakate und die Imagefilme der Bahn anschaut, dann gewinnt man den Eindruck: Alles ist in bester Ordnung. Wie sieht die Realität aus?
So gut wie nichts ist in Ordnung. Ich sitze gerade im Zug. Falsche Wagenreihung, das Bordrestaurant fällt aus, der Zug ist überfüllt, die Reservierungen gelten nicht, wir haben eine halbe Stunde Verspätung, Aggression liegt in der Luft. Wie desolat der Zustand der Bahn ist, dokumentiert diese Zahl: 140 000 Züge fielen 2017 komplett aus, wahrscheinlich werden es dieses Jahr noch mehr. Nur in einem ist diese Bahn richtig gut. In der Werbung. Vulgo: Propaganda. Die Bahn könnte ohne Schwierigkeiten dem Papst ein Doppelbett andrehen. Die Versprechungen der Bahn haben eine so lange wie unselige Tradition: 1995 versprach Bahnchef Dürr, mehr Verkehr auf die Schienen zu bringen – „auch aus ökologischen Gründen“. Zwei Jahre später schaffte er die Postzüge ab und die Post kaufte deswegen 6000 LKWs, ließ plötzlich auch viel Post mit Flugzeugen transportieren. Dürr versprach mit Milliarden Mark die Bahnhöfe zu verschönern, „Empfangssalon der Städte“ sollten sie werden, und mit seinem Programm „Freundlicher Bahnhof“ versprach er, gerade auch die Bahnhöfe auf dem Land ordentlich zu sanieren. Wenn Sie heute auf dem Land unterwegs sind – was sehen und erleben Sie da?
Den Ausnahmezustand?
Sie sehen und erleben: versiffte, verdreckte, verkommene Stationen. Ohne Personal, ohne Service. Tausende Bahnhöfe wurden dichtgemacht, verscherbelt, verhökert. Es ist wie bei Bert Brecht: Wenn die Herrschenden von Frieden reden, gibt es Krieg.
Das hört sich jetzt aber sehr zugespitzt an. Auch die NachDenkSeiten thematisieren die Probleme bei der Bahn schon seit langem und stehen da auch im Dialog mit unseren Lesern, die uns zwar auch immer wieder von Missständen berichten, die Bahn aber insgesamt längst nicht so “versifft, verdreckt und verkommen” wahrnehmen, wie Sie es andeuten. Ist dieser Ausnahmestand wirklich die Regel?
Soll ich Ihnen Bilder des Zerfalls zukommen lassen? Ich bin – als Bahnfreund – ja auch zutiefst erschüttert, was da, vor allem auf dem Land, abseits der Prestigebahnhöfe, geschehen ist.
Die Bahn war doch mal ziemlich solide, oder?
Ich will nichts verklären. Aber es ist einfach tatsächlich so, dass man früher die Uhr nach der Bahn stellen konnte. Vorbei. Komplett aus dem Bewusstsein der Bevölkerung ist auch verschwunden (worden), was für einen heute unfassbaren Komfort die Bahnhöfe selbst auf dem Land boten: Es waren noch echte Bahnhöfe – mit Wartesälen, im Winter beheizt und jedem zugänglich, mit ordentlichen Sitzbänken, mit sauberen und kostenlosen Toiletten, mit Fahrkartenschaltern und echten Menschen, bei denen man spontan Fahrkarten selbst zu Zeiten des Kalten Kriegs bis nach Wladiwostock kaufen konnte, falls man das wollte.
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