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Tacheles » Foren Suche nach Inhalten von Gregory1952
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Die Zeit der schweren Schneefälle. Langsam und unschlüssig im scharf aufkommenden Wind. Atemschwer belegte Luft hinter der Tür. Bohnerwachs und Rotkraut. Der Ofen in der Stube. Der Ofen, der sonst nicht brennt. Mutter mit angestrengter Miene über der Mangel, und hinter ihr der angeheizte Herd. Holz, Seife und Bohnerwachs, dann wieder Rotkraut und gewürztes Fleisch. Der Junge weiß, was die kleinen Blutflecken im Hof bedeuten. Der Hunger kennt keine Traurigkeit. Vater sitzt hinter dem halb leeren Glas, ein halbverzerrtes Gesicht unter dem Flaschenhals. Heute bändigt er seine Hände, und Großmutter beobachtet sie wie ein Falke. Vater, immer noch im Schützengraben, immer noch aus dem Gestern nicht heimgekehrt. Der Junge wartet auf den Abend. Seine Brüder warten auch. Nur Mutter hat keine Zeit. Am Vormittag sind sie über Schnee und feuchten Morast gewandert. Kartoffeln und Milch. Der alte General mit den Windeln, der schon mal in die Luft schießt. Er erscheint wie ein Wanderpokal zu bestimmten Festen. Er erzählt in russisch von Leningrad. Die Rührung ist gemalt und eng gerahmt. Er winkte ihnen zu. Kartoffeln und Milch. Im Winter beeilen sich die Tage. Als sie zurückkamen, waren die Kaninchen und eine Gans schon tot. In den Zwingern bellten Vaters Hunde. Heute würde kein Grenzsoldat kommen. Junge Männer hatten Bäume geschlagen. Es riecht nach Tanne und frischem Harz. Der Segen des Funktionärs. Bäume sind keine christliche Angelegenheit und Traditionen lobenswert. Draußen tanzen die Flocken Wintertango, schleppen die hellen Stunden mit und verwirbeln den Abend in allen Laternen. Mutter legt in der guten Stube Holz nach. Sie will, dass die Hände des Vaters ruhig bleiben. „Stille Nacht“ ist ein gesungener Anachronismus. Hier, unter Plakaten der ruhmreichen Planwirtschaft. Der Junge denkt an das Essen und Geschenke. Er behält die Hände des Vaters im Auge. Sie scheinen heute müde. Rotkraut und Bohnerwachs. Gebratenes Fleisch und die Tür zur Stube. Die Zeit des beheizten Zimmers mit dem wuchtigen Schrank, gefüllt mit nie benutzten Tassen und Tellern. Der massive Tisch und die hohen Stühle. Es könnte gut gehen. Die Tür öffnet sich.
Dort, ohne Licht. Die Trippelschritte des Mädchens am Schattenrand. Im Dunkel die Ernsthaftigkeit der Alten. Die ausgeschlagene Hand. In der Spur des Düsteren geht das Kind allein. Blumen zittern auf schlechtem Boden, nicken mutig im dürren Gras, und das Kind will aus der Reihe treten, weil im Schatten der kalte Wind aus den Südhängen sein Unwesen treibt. Ganz hoch oben Krähen, brunnentief ihre rauen Lieder. Der alte Mann wird nicht mehr da sein. Das Dorf kauert vor dem Friedhof, ein unordentliches Konglomerat aus Häusern und kleinen Gassen, leergeräumt für den Moment, in dem ein Kind verloren geht. Es riecht nach Braten und gutem Kaffee. Braten und guter Kaffee. Der Geruch nach den Toten, dem letzten Geleit. Die Blumen laden zum Pflücken ein, bevor sie im Winter verschwinden. Wichtige Männer tauchen auf. Bürgermeister, Pferdehändler und Vertreter der Partei. Das Kind erkennt die wichtigen Leute an ihren Stimmen über schweigenden Köpfen. Der Hunger ist so alt wie das Dorf. Wenn ein Mensch stirbt, gibt es gutes Essen. Braten und guter Kaffee. Die einsamen Blumen. Der Wind im Schatten. Die ausgeschlagene Hand. Saubere Schuhe und gebügelte Hosen. Umrahmt von schweigenden Türmen zum Himmel, gebeugt unter Krähen, die Jagd auf Hasenkinder machen. Der alte Mann hat keine klebrigen Süßigkeiten mehr. Das Kind hat die Blumen vergessen. Die letzten Worte fallen in eine Grube. Die wichtigen Männer sagen nichts mehr. Die Berge verschränken ihre felsigen Arme und holen sich die Wolken. Auf dem Rückweg schlägt die Kirchenglocke zu den Schritten wie ein riesenhaftes Metronom. Über den Augen der Alten sammeln sich magere Jahre und machen die grauweißen Haare stumpf. Die Schritte des Mädchens am Schattenrand. Die finstere Mühle unter dem Dorf. Der alte Mann dort mit stummen Schreien. Nur der Hunger ist wie eine freundliche Schwester, die, ein wenig verträumt, an der Sonne zupft, um kaltes Licht zu verteilen. Ein zerspringendes Lachen am kleinen Bach, hinter den Blumen, unter den Krähen, vor den nächsten Stunden. Die alte Frau nimmt das Kind an ihre Hand, eine kalte Hand, nahe der finsteren Mühle und Teil der Schatten, die auch im Sommer bleiben. Über den Augen des Kindes sammeln sich sieben magere Jahre und werden dort bleiben.
Rollende Flaschen zu rollenden Steinen, Krümel zertrümmern im Mahlwerk zu Feinstaub, weit aus dem Raum weggesoffener Krieg. Graues drückt Fenster, rudernde Äste, dicht nach den Schritten der vorletzten Gäste, Kaffee bemalt mit Geruch Dein Gesicht. Geh jetzt noch nicht. Asche aus Glut fällt aus unseren Händen, jetzt nichts beenden, solange es geht. Müde versinken, das dürfen, das können, an Deiner Schulter, am Summen der Lieder. Schlaf will mich fangen, wäre Erwachen so einfach und leicht. Komm, leg Dich zu mir, als wären wir sicher in diesem flüchtigen Tagesbeginn. Ach, meine Minne, ich gäbe mich hin!
Über Tauben hätte ich etwas zu sagen. Über Dächer, Regen, meinetwegen. Über blaue Niagarafälle im Gästeklo oder das abfällige Gedusche nach dem Vögeln. Alle Arten des Kuschelns, entgangen durch Waschzwänge, vielleicht auch nur eine lauwarme Kritik über den Schwund der Gletscher. Eisbären, die mit ihrem dicken Hintern lustig einbrechen und lachende Robben. Nein. Es muss Karla sein. Und über die weiß ich nichts.
Der Tag verschläft alsbald die nächsten Stunden. Du hast den Kopf in meinen Arm gelegt. Ein Raunen dreht genügsam seine Runden, ich höre fast, wie ruhig Dein Herz jetzt schlägt. Die Angst geht momentan durch andere Räume. Uns leitet immer noch ein großer Traum. Dies ist die Zeit, die ich nicht gern versäume, denn wie so oft erleben wir sie kaum. Ein heiles Kind erwacht in unserem Denken. Es ist gesund, fernab von aller Wut. Ach, könnten wir ihm langes Leben schenken. Es täte unserem Wollen doch so gut. Wir können es- durch Furcht nur selten spüren. Der nächste Krieg ist laut und schon sehr nah. Du weißt genau, wir können hoch verlieren, doch geht das Kind- wir bleiben dennoch da. Lass uns den nächsten Tag ganz schlicht vertagen. Lass uns hier sein, in stiller Heiterkeit. In Deiner Hand verstummen alle Fragen, und bis zum nächsten Morgen bleibt kaum Zeit. Die kurze Freiheit kann uns keiner nehmen, in der die Hoffnung tanzt und Räder schlägt. Wir müssen uns vor diesem Ort nicht schämen- der uns ermutigt und uns weiter trägt.
Meine Feinde schwimmen nicht tot in Flüssen herum. Sie bekommen langsam Glatze und reden wirres Zeug. Andere haben immer noch nicht erkannt, wer oder was ich bin, schlagen aber diese Unwissenheit mit Ausrufezeichen tot. Man kann sich seine Feinde nicht aussuchen. So bin ich nun mal. Sheriff nennt mich paranoid, schläft aber mit keiner Frau, ohne sie auf winzige Messer oder Schusswaffen an den absurdesten Stellen zu untersuchen. Und wenn es doch noch zum Beischlaf kommt, dann mit Frauen, die entweder tatsächlich bewaffnet oder verrückt genug sind, um sich mit ihm einzulassen. Vielleicht ist Sheriff mein Freund, weil er schon immer eine Glatze hatte, nie ein Gedicht schreiben wollte und mir keine Herzdame ausspannte. Wesentliche Säulen für langanhaltende Freundschaften sind keinerlei Schnittstellen, die etwas mit Sex oder Kunst zu tun haben. Sex, Kunst und Religion. Wir wollen nur die Welt retten (oder wenigstens ein Teil Berlins) und Eierkuchen essen. Die glückliche Welt, die so einfach ist wie Katers Glück durch seine Fettsucht: Als er konnte, wollte er nicht so recht, und als er endlich wollte, konnte er nicht mehr. So lebt er, komplett geblieben, in seiner kleinen Welt. Wer weiß schon, was er auf dem Katzenklo empfindet. Auch auf dem Flohmarkt kommen wir uns nicht in die Quere. Sheriff erwischt immer Replikate, nachgebaut, mit Sperrholz verzimmert, aber soooo günstig. Dagegen wirken meine echten Sachen wirklich mickrig. Heute sitzen wir beim Tee in der Datscha, und es ist nicht schlecht, Wodka im Samowar beizumischen. Wie wir das machen, bleibt ein Männerfreundschaftsgeheimnis. So richtige Feinde haben wir gar nicht. Sheriff wird bei solchen Bilanzen schnell depressiv, aber heute seufzt er nur: „Langweilig, wenn nur Stromableser und S-Bahn- Kontrolleure meine Feinde sind.“ Ich will ihn aufmuntern und erinnere ihn an Karlos Bruder, der immerhin wie ein Banker aussieht. Sheriff nickt und fragt die benachbarte Tischrunde: „Irgendwer ein Bankfuzzi, so ein Anlageberaterwichsgesicht?“ Eine Eulenbrille lacht: „Zählt BWL auch?“ Wir setzen uns zu diesen Spaßvögeln und Sheriff erzählt von seiner Zeit als Kämpfer gegen italienische Kellner und Psychologiestudenten. Der Tag wird doch noch schön. Und während meine möglichen Feinde Glatze bekommen und die verdiente Frau schon haben, genieße ich eine echte Männerfreundschaft, die nichts von mir fordert. Nur manchmal ein wenig Mut, wenn Sheriff depressiv bleibt.
Ich kühle meine Stirn an Steinen. Wintersehnsucht, so tief wie Falten in alten Kleidern. Meine Nachbarn spielen das ganze Jahr Allerheiligen. Todesrituale für begrabene Ideen. Sie sind stolz auf ihre Fahrzeuge, und ihr Kind baut Bombenteppiche der Einsamkeit. Eine Lehrerin belehrt italienische Pizzabäcker, wo die Kultur in Italien ihre Plätze hat. Sie braucht diese bezahlten Aufmerksamkeiten. Ihr Lächeln ist ungeküßt und kalt wie spröder Stahl. Menschen, die nichts mit sich zu tun haben wollen. Auf Friedhöfen tanzen Schatten, machen sich mit ihrer Endlichkeit bekannt. Selbst hier sind die Liegeplätze reserviert. Woanders sterben Wirklichkeiten virtuell, und Laienprediger schreiben darüber Gedichte. Heute darf sich Jeder Poet nennen, der dem „Carpe diem“ etwas hinzufügen kann. Nachts glühen Bildschirme, beleuchten wartende Gesichter. Draußen verwalten Polizeistreifen die Gewalt leerer Straßen. Hier waren mal Menschen. Auf den Plätzen und in den Gassen. Der Herbst ist meine Wirklichkeit. Die Hoffnung meine leicht verwirrte Bekannte, die immer fragt, ob sie mir zu nahe getreten ist. Die Liebe lacht Sehnsüchte in die Bunker abgrundtiefer Ängste. Meine Stärke ist immer noch der Kopf voller Ideen, meine romantische Sucht, Blumen an Liebende zu verschenken, selbst Blume zu sein, die Küssen ihren Duft verleiht. Ich bin der große Junge, der seinen Narben immer neue Kosenamen gibt. Der „Buh“ in die eigene Dunkelheit ruft und dann laut lacht.
Sheriff steht am Herd. Feinripp auf Rippchen, Altershalssehnen unter dem Farnkrautbart. Wenn er Eierkuchen macht, ist er zufriedener als sonst. Suizidaler Leptosom, der nur bei Unterzuckerung wach wird. Ich sitze an seinem Klapptisch, auf dem ein fetter Kater schläft, bin eingeladen, mit ihm zu essen. Wo seine Hände waren, will ich nicht wissen. Das macht unsere Freundschaft aus: Wir wissen nicht viel voneinander und belassen es dabei. Sheriff stalkt in Friedrichshain herum, kennt Mann, Maus und Mäuschen, Kellnerinnen und Kühlketten angelieferter Lebensmittel für verschiedene Bistros. Er hat das Glück, sofort wieder vergessen zu werden- für Stalker ein starker Vorteil. Da ich mich an ihn erinnere, sind wir fast beste Freunde. Bevor er den Tisch deckt, zieht er die Schreckschusspistole und feuert sie einen Zentimeter neben dem Ohr des Katers ab. Manchmal muss er Angstpippi wegwischen, aber der Kater trollt sich immerhin, ohne große Mätzchen zu machen. Draußen vergessen sie ihn zwar, aber nicht den Fremden, der sich mit seiner Pistole einen Platz auf dem Sitzclo freischießt. Man kann sich seine Freunde nicht aussuchen, und so landet der erste Eierkuchen auf meinem Teller. Ich hasse Nougat als Aufstrich, aber sonst kriege ich nichts ab. Der Kater humpelt mit Labyrinthschwindel auf sein Katzenklo, der vor dem alten Kleiderschrank im Flur steht. Er ächzt beim Kacken. Sheriff hat eine Internetfreundin: „Sie will mich treffen. Das war nicht abgemacht. Kann ich mir Deine Wohnung leihen?“ Er lächelt: „Andere bezahlen den Eierkuchen mit dem Leben. Du kriegst ihn umsonst.“ Bevor man Sheriff vertrauen kann, muss man ihm alles zutrauen. Zutrauen und Vertrauen. Nichts kann schöner sein. „Eine Unterhose brauche ich auch. Das andere geht mit Deo.“ Kater hat einen Schleudergang überlebt, die Waschmaschine nicht. „Aber nur eine Unterhose und eine Nacht“, ermahne ich ihn und ergänze: „Ich penne bei meiner neuen Freundin. Wir wollten sowieso irgendwann vögeln. Kann ja auch heute sein.“ Sheriff putzt sich mit dem Unterhemd Nougat vom Kinn: „ Du hast ne Bettgeschichte? Und ich, Dein Freund, weiß das nicht?“ Bevor er etwas tobsuchtet, was er manchmal gern macht, sage ich kurz angebunden: „Reine Rücksicht. Wie das unter Freunden üblich ist. Oder willst Du wirklich wissen, dass die Kellnerin, die Dir den Laufpass gegeben hat..“ Ich leihe ihm die Wohnung für zwei Tage und zwei Unterwäschegarnituren. Dafür bekomme ich noch einen Eierkuchen und keins in die Fresse. Der Kater ist in seiner Kacke eingeschlafen. Echte Freunde lösen ihre Konflikte schnell und sauber. Wir essen zufrieden weiter, und draußen verdunkelt sich Berlin. Sheriff hat zwar wieder Strom, aber keine intakte Lampe mehr. Getobsuchtet, sage ich nur. Seitdem finden es einige seiner zwielichtigen Nachbarn gut, dem Mann von der Stromgesellschaft zu unterstellen, er würde ihr Selbstbestimmungsrecht auf Abgeltungszeiten untergraben. So was schreit Sheriff nämlich, wenn er Lampen zerschlägt und herumtobt. Und das Haus ist hellhörig. Er hat noch Kerzen, und wir trinken Kaffee mit Katzenmilch. „Fettarm“ grinst er, und wir planen die nächsten Stunden. Mit Sheriff kann man Pferde stehlen. Und Wodka. Wahrscheinlich steht eine Frau namens „Weidenrute79“ unsicher im Herzen eines riesigen Bahnhofs herum, und meine neue Freundin wird ihre Versetzung nicht hinnehmen, denke ich, bevor ich an der Seite meines Freundes besoffen am Tisch einpenne. Man muss halt manchmal Prioritäten setzen. Erst recht für die Erhaltung fragiler Freundschaften. Frauen kommen und gehen, aber Sheriff bleibt. Wo soll er sonst auch hin?