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Juliane, du hast das Zollstockspazieren erfunden!
Wir alle leben gerade in einem Roman. Es ist keine Idylle, sondern eine Schauergeschichte. Aber man kommt auf ganz neue Ideen. Zwölf Tage im Leben eines Schriftstellers
Von David Wagner
Der Schriftsteller David Wagner lebt in Berlin und führt für ZEIT ONLINE ein Corona-Tagebuch. Hier lesen Sie den ersten Teil.
28. März
"Hör auf, diesen Quatsch zu lesen, geh mal an die frische Luft", hat meine Mutter früher oft zu mir gesagt. Jetzt höre ich auf ihre Stimme von einst, und gehe tatsächlich hinaus, zum ersten Mal seit drei Tagen. Ich drehe eine Runde und wundere mich über die vielen Menschen im Mauerpark. So viele von ihnen sind auf einmal sportlich unterwegs, Laufbewegungen andeutend, hörbar keuchend. Zwei Krähen sitzen auf dem Zaun, der den überfrequentierten Teil des Parks von der noch immer nicht fertiggestellten Erweiterung trennt, auch sie scheinen sich zu wundern: Sonst ist hier doch alles anders, krächzen sie sich zu. Wo sind die Würste vom Grill? Wo bleiben unsere Freunde, die Flaschensammler? Und wo die Dealer?
29. März
Die halbe Welt ist seit Wochen zu Hause. Und ich frage mich, was machen die alle bloß? Heimarbeiten den ganzen Tag? Ihre Wohnungen renovieren? Auf den Selbstdarstellungsseiten des Internets sieht es aus, als ob nur sinnvolle Dinge getan würden, erfülltes Leben allerorten: Die eigenen Kinder werden bespaßt und unterrichtet, Sprachen erlernt, man engagiert sich und liest kluge Bücher (oder postet deren Cover, immerhin). Und zwischendurch noch Yoga, stundenlang.
Selbst lese ich bloß das ganze Internet durch, jeden Tag von vorne, bis an seine Ränder. Ich schaffe es nicht, einen einzigen Roman zu lesen, denn wie wir alle wohne ich ja nun in einem, jeden Morgen wache ich wieder in ihm auf. Seine Erzählung ist ein bisschen handlungsarm, aber das stört mich nicht, ich habe eine Schwäche für Bücher, die von fast nichts erzählen. My year of Rest and Relexation von Ottessa Moshfegh ist eines von ihnen, in ihm verlässt die Heldin ihr New Yorker Apartment kaum noch, betäubt sich und schläft die meiste Zeit. Fast wie der Protagonist des Romans, den ich gerade lebe. Seine Ausflüge führen nur noch in und um sein Zimmer, wie in Xavier de Maistres berühmtem Buch. Ja, Die Reise um mein Zimmer könnte ich mal wieder lesen. Oder vielleicht doch lieber Der Graf von Monte Christo, den anderen Klassiker der Eingesperrten-Literatur? Und was wäre mit Robinson Crusoe? Wo habe ich den bloß stehen? Die Bücher könnte ich mal ordnen, fällt mir ein, hatte ich das nicht sowieso vor?
Weiterlesen:
https://www.zeit.de/kultur/2020-04/konta...ch-david-wagner
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