Ursula Krechel „Beileibe und zumute“: Den Anker lichten
„Beileibe und zumute“: Ursula Krechels Gedichte gehen der Komplexität und Schönheit des Lebens auf den Grund.
Wir sind im freien Fall, unter uns nur „ein Canyon des Denkens, der sich auftut / nie mehr schließt“. Wo findet sich Rettung? Es ist die „Suche nach / Richtwert“, der uns ein Gerüst, ja, den endlich ersehnten Halt bieten könnte. Doch so einfach ist es nicht. Was uns Ursula Krechel in ihrem neuen Lyrikband „Beileibe und zumute“ vor Augen führt, lässt sich als eine herausfordernde Schule des Bewusstseins beschreiben. Für sie steht fest, dass Wahrnehmung oder schon Erkenntnisbildung nie in wohltemperierten und einfachen Bahnen ablaufen.
In der Welt zu sein, bedeutet Komplexität und Mehrdeutigkeit auszuhalten. Oder wie sie es in einem Gedicht selbst schreibt: „Binäres Denken heißt: viele Möglichkeiten verschenken.“ Nutzt man letztere, sieht man die Dinge anders: Ein Flughafen wird zum Sinnbild der menschlichen Existenz. Denn „Leute rollen / ihre Koffer durch dein Leben“. Im Azurblau des Himmels vernimmt man unversehens barocke Deckenfresken. Derweil entpuppen sich Eulen als Botschafterinnen für eine globale Gesellschaft.
Mit der Realität, wie sie ist, haben Krechels Gedichte sichtlich wenig zu tun. Stattdessen rücken sie unterschiedlichste Phänomene des Daseins in halbfantastische Sphären. Nur was hält sie zusammen? Zum Beispiel „Was ist das Übergangsobjekt zwischen einem Laib Brot und dem Mond“?
Zweifelsohne ist es die Sprache. Sie verknüpft oder trennt auf. Mal „balanciert (sie) auf hochgespanntem Seil“, mal entpuppt sie sich als „eine Mul-/de, Wasser sammelt sich in ihr, Worte brüten. Sie ist kein Tunnel, der von hier nach dort führt“.
Derlei Wendungen legen nahe, dass es der 1947 geborenen Schriftstellerin weniger um klassische Motive der Lyrik wie Liebe und Natur geht als vielmehr um eine Reflexion von Zeichensystemen – wie selbstredend der Literatur. In ihr lassen sich vermeintlich feste Gegebenheiten verfremden und ihrer Verankerung in der Wirklichkeit berauben.
So wird im Gedicht „Wörter entstehen“ Heidelberg zur Projektionsfläche allerlei dichterischer Träume. Liebhaber der Perle am Neckar mutet das „Schornsteinschwarz“ entzückend „rosenrot“ an, haben in all ihrer Schwärmerei ihr „Bett auf Sand gebaut“. Von der echten Stadt erfahren wir jenseits der blumigen Zuschreibungen nichts. Allein „die Spur hab ich verloren“, bekennt das lyrische Ich zuletzt.
Weiterlesen:
https://www.fr.de/kultur/literatur/ursul...n-90218467.html
Reset the World!
Beiträge: | 27.291 |
Registriert am: | 02.11.2015 |
Ein eigenes Forum erstellen |