GERHARD ROTH: Der Imker
Welch ein Vermächtnis: In Gerhard Roths finalem Roman „Die Imker“ triumphiert Fabulierlust über trübe Wirklichkeit. Es ist ein verrückter Weltuntergang, den nur die Verrückten überleben.
Zu den liebsten Objekten der alten, kollabierten Welt zählt für den schizophrenen Ich-Erzähler dieses wuchtigen und doch federleichten Romans ein Gehirnmodell. Franz Lindner, Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt wie die größten unserer Romanfiguren, setzt das Modell immer wieder neu zusammen, ganz so, wie er sich im Labyrinth des Selbst immer weitere innere Wirklichkeiten erschafft.
Der vor wenigen Monaten gestorbene österreichische Schriftsteller Gerhard Roth, der an diesem Freitag achtzig Jahre alt geworden wäre, hat aber noch ein anderes Modell für das Gehirn anzubieten, das sicher in noch keinem Physiologie-Kurs benutzt wurde: Bienen nämlich, die er in Büchern, Filmen und Praxis – man darf sagen: schwärmerisch – verehrte. „Die Bienenstöcke erinnern an den Kopf, die Waben an die grauen Zellen, die Bienen an Wahrnehmungen und Gedanken, und pausenlos und unsichtbar wirkt die Sexualität“, schrieb er im Jahr 2011 in einem wunderschönen, einer Neuausgabe von Maurice Maeterlincks klassischem Bienenbuch beigegebenen Essay, der in die neue Erzählung nicht nur nahezu vollständig eingearbeitet, sondern noch signifikant erweitert wurde. Dass die Welt der Bienen, zweihundertmal älter als die des Homo sapiens, nun durch diesen existenziell bedroht ist, ist ein Menetekel, das der vorliegende Roman mit allen Regeln der Kunst in Literatur zurückübersetzt.
Ein Kennzeichen dieses Autors ist es, Symbole und Metaphern gleich selbst zu erklären. Dass das nie aufdringlich wirkt, hat damit zu tun, dass der Bildbereich im Allegorischen nicht aufgeht. Gerhard Roths Literatur ist die unverkopfteste Kopfliteratur, die sich denken lässt. „Die Imker“, zwar postum erschienen, aber vollendet, ist nicht nur der würdige Abschluss eines imposanten Lebenswerks aus Romanzyklen, Erzählungen, Theaterstücken, Fotobüchern und Filmen, sondern der vielleicht letzte große Triumph des phantastischen Realismus deutscher Sprache, der als literarisches Pendant zur Antipsychiatrie von Michel Foucault, Ronald D. Laing und Félix Guattari mit medizinisch bewanderten Autoren wie Roth oder Ernst Augustin in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts seinen Höhepunkt erlebte. Ausgegrenzte und Psychotiker sind die Helden dieser Literatur, und zwar, gemäß dem alten Topos der Nähe von Kunst und Wahnsinn, als Schöpfer beeindruckender Innenwelten.
Wie alle Anstaltsromane ist „Die Imker“ als Protokoll einer Psychose lesbar, als Erfahrung eines Menschen, „der die Entdeckung macht, sternengleich zu sein“. Darauf weisen explizit die letzten Zeilen hin, die das Geschriebene als Vermächtnis Lindners bezeichnen, gefunden wenige Monate nach seinem Tod – als sei die Koinzidenz mit der Romansituation geplant gewesen – und wie Kafkas Werk eigentlich dem „Verbrennen“ zugedacht. Aber das fällt kaum weiter ins Gewicht gegenüber der surrealen, mitreißenden Binnenhandlung, die von einer entfesselten Fabulierlust zeugt. Es gibt hier keine in Sanatorien weggesperrten Kranken mehr, oder besser: Es gibt alles andere nicht mehr. Gleich zu Beginn nämlich löscht ein ominöser gelber Nebel die Zivilisation nahezu aus. Überlebt haben den „Weltuntergang“ einzig die zu dieser Zeit Eingesperrten: Patienten und ihre Pfleger, Gefängnisinsassen, wenige Soldaten, Personen, die sich zufällig gerade im Keller aufhielten, Bienen, Zirkus- und Stalltiere, aber auch Krähen, die vermutlich einfach zu klug waren, um unterzugehen.
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