Martin Lechner: Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen
Wenn die Dinge zornig werden
Martin Lechner wirft einen Blick in die grotesken, bedrohlichen Abgründe des Alltags
Mit Kleine Kassa legte Martin Lechner 2014 einen virtuosen Debütroman vor. Er schickte einen modernen Simplicissimus auf einen Hindernisparcours durch seine Heimatstadt Lüneburg, wobei die hyperbolische Sprache in dem naiv-klugen Protagonisten stets ein Zentrum hatte, alle narrativen Fäden liefen dort zusammen. Auf einen solchen identifikatorischen Anhalt muss der Leser in seinem neuen Erzählungsband Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen verzichten. Trägt und bewegt Lechners rhythmische Sprache, die gleichermaßen von Verdichtung wie von arabesker Verzweigung lebt, auch kurze Texte?
Der Autor entwirft Experimentier-Anordnungen, Un-Fälle zwischen Menschen, zwischen Menschen und Dingen. Der Leser steht vor einer Absperrung. Er weiß: Dies ist ein Tatort. Oder eine Parade von Freaks. Es treten auf: ein lebensmüder See, der sich durch den Fund eines abgetrennten Kopfs in einem Koffer nun wieder etwas animiert fühlt, ein Duschvorhang, der um aktive Sterbehilfe bittet, bevor ihn der Schimmel überzieht, eine Socke, ein Ohr, ein abgetrennter Finger, ein Knie, ein Fuchs, eine Schraube, verschiedenste Städte, diese und jene Menschen auch. Es ist sicher keine Etikettierung, wenn man diese Erzählungen im Genre der Groteske verordnet.
Tatsächlich zieht sich das Thema der Höhlen-, Grotten- und Abgrundgeschichten durch den ganzen Band. In der ersten Erzählung Mainz bemerkt ein Hotelbesucher „eine leichte Kuhle in der Mitte des Empfangsteppichs“, die ein „menschengroßes Loch anzudeuten“ schien. In Der Schacht erweitert sich die „Kuhle“ zu einem Abgrund, einem Krater gleich hinter der Hausschwelle, der das Haus unbewohnbar macht und den Eigentümer zu der Frage verleitet, „ob er sich nicht kopfüber in die Schwärze stürzen“ sollte. In Feierabend findet ein Pendler in der Zugtoilette einen Zugang zu einem Keller, der aus wildem, offenem Fleisch besteht, das ihn zu verschlingen droht.
Immer wenn Menschen sich fallen oder gehen lassen, wenn sie sich erlauben, nicht zu funktionieren, tut sich ihnen eine groteske, bedrohliche Abgründigkeit auf. Grotesken haben vordergründig einen hohen Unterhaltungswert. Lechner aber stärkt das analytische Moment. Und zwar im wörtlichen Sinn: Er zergliedert, zerlegt. Der Blick schärft sich für das, was sich im Alltäglichen verrenkt, entfremdet, deformiert. Wenn die isolierten Dinge zu sprechen beginnen, erzählen die Geschichten zweierlei. Zum einen, wie müde, verzweifelt und zornig die Dinge in der Menschenwelt geworden sind. Zum anderen spiegeln sie unser Selbstverhältnis.
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