Ror Wolf: Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie
Pilzer, Pelzer, Fußball
Zum 90. Geburtstag des großen, 2020 verstorbenen Schriftstellers Ror Wolf erscheint dessen Tagebuchband "Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie".
WOLFGANG SCHNEIDER
Tagebücher dienen oft der Erlebnishygiene. Unerfreuliche Ereignisse werden aufgeschrieben, als wären sie damit gebannt und erledigt. So hat der Tagebuchschreiber Thomas Mann am Abend innerlich aufgeräumt, und so notiert auch Ror Wolf vor allem das, was belastet und den glatten Tagesablauf ins Stocken bringt, etwa wenn er sich an einem Sauerkrautdosendeckel fast den Finger abschneidet und im Krankenhaus behandelt werden muss.
Oder wenn er, in der Einflugschneise des Frankfurter Flughafens lebend, unter Lärm leidet: „Ungeheure Urlaubsfliegerschwärme. Schmeißfliegenartig. Herabfließendes Kerosin.“ Frankfurt selbst ist ihm „eine fette Bedrohung, eine riesige Fäkalie“, West-Berlin findet er immer „provinzieller“ und „großschnäuziger“; er vergleicht die Mauerstadt mit einer „breitgedrückten kalten Kartoffel“.
Das „Tagebuch 1964-1996“ ist die wichtigste und überraschendste Veröffentlichung zu Ror Wolfs 90. Geburtstag. ("Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie". Tagebücher 1964-1996, hg. v. Klaus Schöffling, Schöffling Verlag, Frankfurt 2022, 344 S., 32 €.)
Ein großer Teil der Aufzeichnungen ist dem Tagesgeschäft des Schriftstellers und Collage-Künstlers gewidmet: Radiotermine, Lesungen, Literaturbetriebsnachrichten, Autorentreffen, Preisverleihungen.
Bald aber drängen sich andere Themen mächtig dazwischen. Allem voran: das Wohn-Unglück. Die menschliche Unbehaustheit in der Welt – dieses philosophische Motiv wird bei Ror Wolf sehr konkret und existentiell. Wieder und wieder zieht er um und gerät auf dem „vergangsterten Wohnungsmarkt“ von einer Katastrophe in die nächste.
Eindringlich wird die Hochhaushölle von Mainz-Gonsenheim beschrieben, die ihm das Jahr 1977 verdirbt. Über ihm wohnt ein Herr Trost, der „nach Herzenslust bohrt und hämmert, vor allem Nachts“. Feuer brechen aus im amerikanischen Teil des Wohnkomplexes, ringsum sind US-Truppen stationiert, Panzer dröhnen, knatternde Nahkampfübungen finden statt.
In Zornheim-Nord bewohnt er mit seiner Frau 1982 ein abgelegenes Haus, das „für Einbrüche besonders geeignet“ ist. Die Heizungen stinken, das Regenwasser rinnt in die Zimmer, die Außenverkleidung fällt herunter, das „Klosett rauscht am Sessel vorbei“.
Im verwahrlosten Garten gedeihen die Insekten prächtig: „Die Mücken sind so stark und böse, dass sie einen ausgewachsenen Mann mit einem einzigen Stich an den Rand des Ruins zu bringen vermögen.“ Nicht leicht, Nachmieter zu finden für diese Bruchbude. Der einzige Interessent ergreift die Flucht: „Er habe noch nie etwas derart Scheußliches angeboten bekommen.“
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https://www.tagesspiegel.de/kultur/ror-w...l/28465060.html
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