Sozialpolitik anno 2022
Im besten Deutschland aller Zeiten sollen Wärmehallen für alte und arme Menschen entstehen. Wo ist eigentlich der Aufschrei? Spüren wir noch was?
Eigentlich taktisch eher suboptimal, dass unsere neuen Kennedys, die Lindners aus Sylt, ihre Hochzeitsfeierlichkeiten nicht in den Herbst oder Winter verlegen konnten: Die medial orchestrierte und choreographierte Vermählung hätte in den kalten Tagen, die sich dann nicht mehr ganz gewöhnlich mit einem Heizkörper erwärmen lassen, sicher für warme, romantisch aufgeheizte Gedanken gesorgt und manche Frostbeule kurzzeitig in einen molligen Zustand versetzt.
Tja, Chance vertan. Während in Sylt gefeiert wurde, schaute man sich in mancher Kommune nach anderen wärmenden Ideen um. Und siehe da, es gibt Abhilfe: Wir konzentrieren Alte und Arme einfach in Mehrzweckhallen, in denen Betten stehen: Das ist Sozialpolitik anno 2022.
In Ludwigshafen wolle man so vorgehen, las man am Sonntag. Dort sollen Wärmehallen entstehen, Mehrzweckhallen also, in die man Betten schiebt. Irgendwas müsse man schließlich machen, denn Wirtschaftsminister Robert Habeck hat konkretisiert, dass es sehr schlimm kommen wird, alptraumhaft gar – vor einigen Wochen erklärte er noch, die Situation sei ernst, aber man habe alles im Griff. Im Griff hat man jetzt offenbar nichts mehr. Außer die Armen und Alten: Die hat man im Griff und am Wickel.
Die Energiekrise, die uns da droht, wird uns als Naturgesetz präsentiert. Dass es Abhilfen gäbe, man den Kurs wechseln müsste: Kein Schimmer. Der Wirtschaftsminister macht in seinen Untergangsauftritten immer klar, dass es da keine Alternative gibt. Bis vor zwei Jahren war die Politik im Lande offenbar so potent, dass sie sogar Weihnachten ausfallen lassen wollte wegen eines Virus – jetzt ist sie aber zu schwach, um Dinge abzuändern, die sie tatsächlich in der Hand hätte.
Die Bundesregierung schaut indes aus der Ferne zu, wie Städte und Landkreise Hallen ausstatten, um im Winter nicht zu viele Kältetode beklagen zu müssen. Eine Regierung, die das zulässt, hat die Kontrolle über das Land endgültig verloren. Oder vielleicht doch nicht?
Denn wo ist eigentlich der Aufschrei? Der Zorn der Gerechten? Sicher, in den Netzwerken ereifern sich viele. Sie zürnen jener Kaste, die Glückwünsche nach Sylt sendet und gleichzeitig so erstaunlich unsensibel ist, wenn es darum geht, die pure Not des kommenden Herbstes als alternativlos zu skizzieren. Aber sonst? Wo zeigt sich die Wut im Alltag? Wo laufen Leute Sturm? Ist es jetzt wirklich schon so weit, dass wir Hallenkonzentration – mit Maskenpflicht und Abstandsgebot? – als sozialpolitischen Move akzeptieren?
Falls ja, sei die Frage doch erlaubt: Spüren wir noch was? Oder sind wir nun wirklich völlig abgestumpft? Man darf vermuten, dass die Corona-Krise uns in allen Belangen unempfindlich gemacht hat. Aufschreie gibt es in diesen Breitengraden nur noch bei Randthemen, bei Marginalien, wenn jemandes Befindlichkeit angekratzt wurde etwa – aber wenn es den wehrlosen Mitgliedern unserer Gesellschaft an den Kragen gehen soll, sitzen wir da und zucken mit den Achseln und tun so, als könne man gegen das Naturgesetz, wonach Arme und Alte immer machtlos sind, nun wirklich nichts ausrichten.
Wie weit wollen wir sie eigentlich noch gehen lassen? Gibt es keine natürlich Grenze gegen diese Bürokratendespotie, die uns einbläuen will, sie sei der Inbegriff wahrer Demokratie? Wo beginnt die natürliche Grenze der Zersetzung, des Widerwillens, der Empörung, die mehr will, als sich nur kurz auskotzen? Die endlich aufräumen will mit jenen, die ihre Dekadenz und Arroganz als Ausdruck politischer Kompetenz präsentieren?
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