Diese schamlosen, leichtsinnigen, klugen, unfassbar dummen Frauen
Erzählungen Sie gilt als eine der letzten Vertreterinnen der russischen Intelligenzija. In Ljudmila Ulitzkajas neuem Erzählband „Alissa kauft den Tod“ zeigt sich ihre ganze stilistische Artistik
Anfang März verlässt die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja auf dringenden Rat ihres Sohnes Moskau. Zwei Tage später trifft sie in Berlin ein. Die 79-Jährige gehört nicht zu den russischen Künstlern, die sich vor einer deutlichen Position gegen Putin und seinem Krieg scheuten. Sie zählt schon lange zu den Kritikerinnen der russischen Staatsmacht. Ein Mut, der einen Preis hat. Solange Putin an der Macht ist, glaubt sie, werde sie nicht nach Russland zurückkehren können. Das ist ihre Angst. Trotzdem ist sie nicht hoffnungslos. In einem Interview, das sie der Deutschen Welle gegeben hat, sagte sie: „Wenn dieser Krieg gestoppt werden kann, dann nur durch Frauen.“
Wie ernst ihr dieser Satz ist, zeigt ihr wenige Tage vor Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine erschienener Band mit Erzählungen Alissa kauft ihren Tod. Darin legt sie die Spur zu den Frauen. Wenn der erste Teil der Prosa-Auswahl mit „Freundinnen“ überschrieben ist, meint sie ihre Gefährtinnen: diese „leichtsinnigen, weisen, schamlosen, bezaubernden, verlogenen, wunderbaren, abergläubischen und treuen, diese überaus klugen und unfassbar dummen Frauen“. Ihre Freundinnen sind nicht heroische Geschlechtsgenossinnen, sie lieben, streiten, leiden. Mit einem Schicksalsschlag endet jäh ein Schnapsgelage.
Die 64-jährige Alissa der Titelerzählung möchte eigentlich ein Mittel zum Sterben, um – wenn es bald so weit ist – kein Pflegefall zu werden. Es kommt anders. Als ihre Schwiegertochter ein Kind zur Welt bringt, denkt sie nicht mehr daran, vor dem Leben zu kapitulieren, und wird eine glückliche Großmutter. Diese und andere Geschichten haben so viel (post-)sowjetische Wirklichkeit aufgesogen, dass der Eindruck entsteht, es handle sich um einen verschenkten Roman, was ein großes Kompliment für eine Erzählung ist.
Der zweite Teil versammelt Kurzgeschichten und stellt selbstironisch, mit viel Lakonie die Frage, warum man bei Eintritt in die letzte Phase seines Leben noch immer so wenig von ihm verstanden hat, nicht weise geworden ist. In diesen Geschichten zeigt sich die Schriftstellerin auch von einer anderen Seite. Sie benutzt surreale Erfindungen. So in „Aqua Allegoria“. Sonja, die Protagonistin, ändert nach ihrer Scheidung ihre Essgewohnheiten. Fleisch, wonach ihr Mann so süchtig war, kommt ihr nicht mehr in die Wohnung. Von jetzt ab isst sie nur noch Äpfel. Über die Jahre hat es Folgen, denn Sonja wachsen kleine Fäden aus ihrer Haut, mit denen sie sich eines Tages verpuppt. Als wunderschöner Schmetterling verlässt sie die Wohnung, trifft sich mit Artgenossen und ist nicht mehr allein.
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