Kläger, Richter, Henker
Noch nie wurde sich so viel (fremd-)geschämt wie heute. Robert Pfaller fragt in seinem Buch „Zwei Enthüllungen über die Scham“ nach den Gründen
Flugscham, Konsumscham, Impfscham. Wie kommt es, dass in einer Zeit, in der traditionelle Ordnungen an Bedeutung verloren haben, während individuelle Freiheiten triumphieren, uns Schamgefühle schon bei banalsten Alltagshandlungen ereilen, sogar ein Einkauf im Supermarkt selten ohne schlechtes Gewissen abläuft? Alles Mögliche kann uns inzwischen die Schamesröte ins Gesicht treiben – heißt das, dass wir in einer Schamkultur leben?
Dieser Frage geht Philosoph Robert Pfaller in seinen Zwei Enthüllungen über die Scham nach. Der Essay ist ein fröhlicher philosophischer Ritt durch Theorien der Scham, etwa aus der Feder von Günther Anders, Léon Wurmser und Sigmund Freud.
Pfaller, der zuletzt in seinem Buch Die blitzenden Waffen die Rolle der Rhetorik für die Produktion von Erkenntnis hervorgehoben hat, liefert hier einen stilistisch glänzenden Essay ab, der allerdings einen interessanten Fehlschluss enthält.
Aber von vorne. Pfaller eröffnet seine zwei Enthüllungen mit einer erstaunlichen Einsicht: Galt es früher noch, sich für ein Zuwenig zu schämen, ist heute oft ein Zuviel Ausgangspunkt für schamhafte Reaktionen. Flugscham kann nur empfinden, wessen Einkommen Flugreisen zulässt. Scham angesichts von Körperfülle empfinden nur Menschen in Überflusskulturen. Bereits Günther Anders führte den Begriff der promethischen Scham ein, der das beschämte Erstaunen angesichts der Vollkommenheit menschengemachter Dinge meint. Doch heute ist das Erstaunen einer Schuld gewichen: Menschengemachtes mag Ehrfurcht einflößend sein, aber dem zeitgenössischen Prometheus haftet der Ruf einer Umweltsau an. Daher die Flugscham.
Mit ihr kommen wir zu einer weiteren Erkenntnis über die Scham: Sie bedarf keines Verschuldens. Wer über seine Füße stolpert und schamhaft errötet, fürchtet nicht, ins Gefängnis zu wandern. Wer sich schämt, weil er ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen hat, der hat sich an niemandem versündigt – allenfalls an der Sahnetorte. Aber im Zeitalter der Scham wird aus Sünden und Fehltritten eine mächtige Waffe geschmiedet: das „shaming“. Es begegnet uns in der Form des Bodyshamings, wenn nicht-ideale Körper einen Anspruch darauf erheben, sichtbar zu sein. Es kann auch zu einer mächtigen politischen Waffe werden. Beschämt wird ja nicht nur, wer Justiziables getan hat. Oft genug ist das Gegenteil der Fall: Es wird verurteilt, was als unmoralisch gilt, aber de facto legal ist. Anders als vor Gericht, wo der Beklagte sich immerhin verteidigen darf und (hoffentlich) die Chance auf einen fairen Prozess erhält, tritt beim Shaming die Öffentlichkeit als Kläger, Richter und Henker auf. Diese Mischung aus Shaming und der Umkehrung der Schamgründe von einem Zuwenig zu einem Zuviel treibt ungeahnte politische Blüten, etwa wenn sich Menschen neuerdings für ihre Privilegien schämen sollen.
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