Irmgard Keun: Kind aller Länder
Irmgard Keuns Roman „Kind aller Länder“ wurde neu aufgelegt – genau das richtige Buch in Zeiten der Migration
Sie ist gerade zehn Jahre alt und hat schon sehr viel gesehen von der Welt: Frankfurt am Main und Lemberg in Polen, Nizza, Paris, Brüssel, Amsterdam. Dann geht es per Schiff auch noch über den Ozean, nach New York. Aber kaum irgendwo angekommen, erklären die Eltern dem Mädchen, dass die Koffer bald schon wieder gepackt werden müssen. Mutter, Vater und Kind sind auf der Flucht. Was es mit Pässen, Visa und Grenzkontrollen auf sich hat, versteht die Kleine schon recht gut: „Ein Pass ist ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, dass man lebt. Wenn man den Pass verliert, ist man für die Welt gestorben. Man darf dann in kein Land mehr. Aus einem Land muss man ’raus, aber in das andere darf man nicht ’rein.“
Kully heißt dieses aufgeweckte, gehetzte Kind aller Länder. Es ist kein heutiges Mädchen aus Syrien oder Afghanistan, sondern die Erzählstimme in Irmgard Keuns fast vergessenem sechsten Roman, der jetzt bei Kiepenheuer & Witsch neu aufgelegt wurde. Kind aller Länder erschien erstmals 1938 im Querido-Verlag, der sich in Amsterdam auf deutsche Exilliteratur spezialisiert hatte, während nebenan, jenseits der Grenze, der Naziterror zum Schrecken Europas heranwuchs.
Wie das Kind Kully im Roman, floh auch Irmgard Keun vor den Faschisten. 1936 fand sie, wie andere verleumdete und verbotene Künstler, eine vorübergehende Zuflucht im belgischen Ostende. Dort wurden sie und der Schriftsteller Joseph Roth ein Paar. Ihre Verzweiflung ertränkten die beiden oft in Alkohol. Und sie feuerten sich in der Arbeit an: Während der zweijährigen Liaison schrieb Keun drei Romane, der bekannteste davon heißt Nach Mitternacht. Kurz nach der Trennung von Roth – und kurz bevor Keun kurzzeitig in den USA Zuflucht suchte – stellte sie Kind aller Länder fertig.
Die Geschichte der kleinen Kully kann man als Verarbeitung von Keuns eigener Unbehaustheit lesen. So hat es die Schriftstellerin in ihren späten Jahren selbst angedeutet. Literarisch ist der Roman vielleicht nicht ihr stärkstes Werk. Aber wenn man die Lage der Autorin mitdenkt, gewinnt die Kinderstimme im Buch eine zusätzliche Farbe – eine noch dunklere als ohnehin schon. Das Mädchen ist gewitzt, hintergründig, von den Umständen zu einem hohen Maß an Selbstständigkeit gezwungen: „Man muss dafür sorgen, dass man alles auf der Welt allein ’rausfindet. Ich habe auch schon viel herausgefunden“, denkt Kully. Erwachsenen gegenüber hegt sie Misstrauen: „Ich weiß nicht, ob es wahr ist (was sie mir sagen). Manchmal werde ich auch angelogen.“
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