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Agitiert und angefasst

#1 von Sirius , 05.04.2023 16:45

Agitiert und angefasst
Der Berliner Dichter und Publizist Max Czollek wähnt sich, was die Poesie betrifft, in einem verschlossenen Land. Welcher Teufel reitet ihn?

Wie angefasst zeigten sich die armen Dichterinnen und Dichter, als einer der ihren, Max Czollek, dem „Lyrikbetrieb“ auf faustkultur.de die Leviten las. In ihren Facebook-Posts fragten sie sich ernsthaft, ob es in ihrem literaturbetrieblichen Subsystem hinter den tausend Endmoränen kultureller Debatten tatsächlich so hinterwäldlerisch zugehe, wie es ihr der Berliner Publizist vorhält. Czollek, unter dem Titel seines jüngsten Essaybandes „Versöhnungstheater“ zum Kurator einer Reihe am Haus der Kulturen der Welt bestellt, war Mitte März beim Darmstädter Leonce-und-Lena-Wettbewerb als Lyriker durchgefallen und hatte seine Wut gegen die Jury gerichtet: Ein „Verschlossenes Land“ wehre sich gegen postmigrantische, jüdische und queere Diversifizierung. Es dauerte ein paar Tage, bis ein gesundes Selbstbewusstsein zurückkehrte, und Czolleks Polemik in ihrer maßlosen Selbstgerechtigkeit, poetologischen Blässe und historischen Ahnungslosigkeit erkannt wurde.

Der schärfste Gegenwind kam von Yevgeniy Breyger, einem in Frankfurt lebenden und auf Deutsch schreibenden Ukrainer, der sich gleich doppelt beleidigt fühlte: „einmal als Dichter und einmal als Jude“. Czollek, schimpft er auf lyrikkritik.de, missbrauche das Thema Judentum, indem er mit Wörtern wie Golem und Jericho um sich werfe, als habe er „eine kostenlose Kneipentour in Prag zu Rabbi Löw mitgemacht und dort dies und das aufgeschnappt“. Überdies wirft er ihm, kurz gesagt, Holocaust-Kitsch vor – und eine unerträgliche Anzahl an Rechtschreibfehlern. Ihm assistierte Ulrike Draesner, eine der attackierten Jurorinnen, mit einer kühlen Auflistung ihrer Grundsätze: „Wokeness doesn’t trump aesthetics.“ Und Hendrik Jackson, der Betreiber von lyrikkritik.de, beklagte ergänzend die „Verengung auf inhaltliche Aspekte“ und eine Minderheiten-Idolatrie, hinter der „die Vorstellung vom edlen Wilden“ mitschwinge.

Wie kann der als public intellectual auftretende Czollek mehr Respekt vor der Politisierung von Lyrik einfordern, ohne an die allzu billigen Ergebnisse der 1970er Jahre zu denken? Wie kann er die genialischen Jahrhundertkommunisten Jannis Ritsos, Nazim Hikmet oder Pablo Neruda vergessen? Wie kann ihm die Diversität der Gegenwart entgehen? Jede Generation hat ein Recht auf eine eigene Agenda. Mit Mitte 30 könnte aber auch Max Czollek anfangen, allmählich seine hinlänglich bekannten Denkformeln zu revidieren.

https://www.tagesspiegel.de/kultur/lyrik...st-9612479.html


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Sirius
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