Louise Erdrich: Jahr der Wunder
Louise Erdrich ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Gegenwartsautorinnen. Ihr Roman "Jahr der Wunder" ist hinreißend komisch, voller Liebe und Lebensfreude.
von Annemarie Stoltenberg
Die Ich-Erzählerin heißt Tookie und hat einiges hinter sich. Als junge Frau hat sie sich verlocken lassen, die Leiche eines Mannes zu stehlen und an einen anderen Ort zu bringen. Dieser dubiose Leichnam diente als Drogenversteck und wegen Drogenschmuggels und Störung der Totenruhe wurde sie zu 60 Jahren Haft verurteilt. Man vermutet Rassismus hinter der richterlichen Entscheidung über das Schicksal einer indigenen Frau. Ihr Anwalt wirkt nicht sonderlich kompetent, aber tatsächlich hat er in den folgenden Jahren immer wieder eine Revision des Urteils beantragt.
Als Tookie nach zehn Jahren vorzeitig entlassen wird, möchte sie sich bei ihm bedanken, aber da ist er gerade an einem Herzinfarkt gestorben. Tookie beginnt in einer Buchhandlung zu arbeiten. Im Gefängnis hat sie unglaublich viel gelesen und wird nun eine vorzügliche Buchhändlerin. Dann stirbt eine Stammkundin des Ladens: Flora. Es beginnt zu spuken.
Ich hörte sie murmeln, dann raschelte es in einem der hohen Regale in der Belletristik, ihrer Lieblingsabteilung.
Tookie versucht es zu ignorieren, aber immer wieder liegen Sachen herum, die nur Flora verräumt haben kann. Sie fragt ihre Kollegen und andere Menschen, die ebenfalls zugeben, den Spuk der toten Flora wahrzunehmen. Tookie sucht in etlichen Kulturen der Welt nach einem Gegenzauber, nach einer Möglichkeit, die Geister zu bändigen. Unterdessen toben auf den Straßen politische Proteste gegen eine rassistisch agierende Polizei. Dann bricht die Corona-Pandemie aus. Eine Autorin namens Louise versucht noch, auf Lesereise zu gehen. So besetzt Louise Erdrich sehr charmant eine Nebenrolle im eigenen Roman.
Nach der Lesung auf dem Campus (…) schaute Louise auf ihr Handy. Sie hatte Nachrichten von ihren Schwestern und eine von ihren Töchtern: Bitte komm heim. Die nie gekannten Wörter trieben sie dazu, noch am Abend zu packen.
Es liege Tod in der Luft, heißt es in der Beschreibung der Covid-19-Epidemie. Die Buchhandlung boomt, gerade in der Krise. Sie bietet wirksame Hilfe gegen die Folgen von Lockdown, Krankheit und Einsamkeit. Der Roman wird mehr und mehr zu einer opulent inszenierten Feier der Literatur. Bei der Inventur im Laden finden die Buchhändlerinnen sogenannte Kuckucksbücher:
Das ganze Jahr über bedienen wir fleißig die Kasse und merken es nicht, wenn Leute uns Bücher in die Regale schmuggeln. Leider können wir sie nicht annehmen, die von Hand kopierten, selbst verlegten, manchmal handgeschriebenen Bücher, weil sie ein logistischer Alptraum sind, unser System überfordern. Kuckucksbücher sind sie auch deshalb, weil sie ganz umsonst ein Dach über dem Kopf bekommen.
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https://www.ndr.de/kultur/buch/tipps/Jah...erdrich102.html
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