Claire-Louise Bennett: Kasse 19
Claire-Louise Bennetts außergewöhnliches Buch „Kasse 19“.
Gewiss doch ist dies, „Kasse 19“, ein Roman wie ein Film von Ken Loach: sozialkritisch, realistisch, vermutlich das Leben einer Kassiererin, einer Frau aus der englischen Arbeiterschicht erzählend? Aber da hat Claire-Louise Bennett bereits mit nur einem Wort und einer Zahl bewiesen, wie mächtig Wörter sind, wie sie Erwartungen erzeugen – aber dass, wer sie gebraucht, mit List und Bedacht einsetzt, diese Erwartungen auch lässig umdribbeln kann. „Kasse 19“ ist nämlich ein autobiografischer Roman über das Erzählen, sich Geschichten Ausdenken, über das Lesen, das Schreiben, ein Buch über andere Bücher (15 stehen hinten in den Quellenangaben). Die „Kasse 19“ des Titels – „Checkout 19“ im Original – kommt zwar vor, doch nur ganz nebenbei.
Die Ich-Erzählerin ist gerade auf dem Weg zu Kasse 19, „wo ich mich für eine weitere Neunstundenschicht auf den schiefen Drehstuhl setzen werde“, als „der russische Mann“, der Dill so gern mag, Dillgurken besonders, ihr ein Buch gibt. Nein, ein Buch zückt und ihr in den Weg „hängt“. Sie nimmt es, legt es ins Regal neben die Kassenrollen. Es ist „Jenseits von Gut und Böse“ von Friedrich Nietzsche. Die junge Frau hat, Dinge über den Scanner ziehend, das Gefühl, „dass der russische Mann durch mein in Aufruhr versetztes, aber unversehrtes Fleisch hindurchgeschaut hat“.
In Aufruhr versetzt? Dringlichkeit durchzieht dieses erst zweite Buch der im Südwesten Englands aufgewachsenen, um die Jahrtausendwende nach Irland ausgewanderten Bennett (mit ihrem Geburtsjahr geht sie diskret um). Ist es ein Roman? Eine Autobiografie? Ein Essay? Eine Literaturkritik? Alles davon, über Genregrenzen hinweg, darum kaum wie andere Bücher. Die Sprache kreiselt, wird manchmal geradezu atemlos, fiebrig, zwischendurch verzichtet Bennett auf Satzzeichen, ob es nun um gravierende, traumatische Erlebnisse der Erzählerin geht (dazu später mehr), oder die dunkle, perfekte Schönheit von Auberginen, so dass die Studentin gern Auberginen von der Decke ihres Zimmers hängen hätte, oder eben – meistens – um das Lesen.
„Egal, welches Buch wir gerade in der Hand hielten – wir fragten uns pausenlos, welche Wörter wohl in den anderen Büchern standen. Wir waren machtlos dagegen, nicht wahr. Wir konnten einfach nicht anders, als über die anderen Bücher und die Wörter darin nachzudenken, und wenn wir dann eins der anderen Bücher in die Hand nahmen, um nachzusehen, ging alles von vorn los.“ Sie kommt also ab von den Bücherstapeln. Sie legt das eine Buch neben sich, schlägt es dann hier oder da auf, liest „ein oder zwei Wörter der Zeile, auf der unser Blick zufällig gelandet war, und diese ein oder zwei Wörter reichten schon aus, nicht wahr, um noch spannendere Bilder heraufzubeschwören“.
Claire-Luise Bennett: Kasse 19. A. d. Englischen von Eva Bonné. Luchterhand, München 2023. 304 S., 22 Euro.
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