Leona Stahlmann: Diese ganzen belanglosen Wunder
Wie lebt es sich, zumal als junger Mensch, wenn der Zug in Sachen Klima längst abgefahren ist? Wenn es keine Wale mehr gibt und kein Venedig, wenn in weiten Teilen Europas Flüsse kein Wasser mehr führen, Wälder und Felder verbrennen und der Weltuntergang einfach nur unaufhaltsam voranschreitet? Für die Zukunft geht zur Jahrhundertmitte jedenfalls keiner mehr auf die Straße, auch nicht an einem Freitagvormittag.
Stattdessen gibt man sich, jedenfalls hierzulande, der gepflegtesten Langeweile hin. Man schaut stundenlang seltsame Filme über Möbelstücke an, nimmt sich beim Schreien oder Dummherumschauen auf oder ärgert sich über ungünstige Lichtverhältnisse in der Wohnung, denn „unsere Liebe hängt davon ab, sie die anderen sehen zu lassen.
Fürs Nahsein ist es an den meisten Tagen sowieso viel zu heiß“, wie es in dem neuen Roman der 1988 geborenen Hamburger Schriftstellerin Leona Stahlmann heißt. (dtv, München 2022. 408 Seiten, 22 €.) Eine Dating-App ist hier das letzte verbindende Element zwischen den Menschen.
Vor allem aber ist man froh, wenn einen die Katastrophenmeldungen nicht selbst betreffen. Für Stine, eine Nebenfigur des Romans, sind die Nachrichten sogar „Nistplätze für Behaglichkeit“. Auf ihrem Rücken hat sich die junge Frau die Temperaturprognosen der letzten zehn Jahre tätowieren lassen, wohl als eine Art ironisch-postapokalyptischer Kommentar.
Für ihre Exfreundin Katt dagegen, die Ich-Erzählerin der zweiten Romanhälfte, darf der „Strom der Bilder“ nie abreißen. Was nur logisch ist: Wirklich Sorgen muss man sich schließlich erst dann machen, wenn es gar keine Nachrichten mehr gibt.
Von schöner Ironie ist dabei, dass sich Katt in dieser zukunftslosen Welt ihren Lebensunterhalt mit Online-Tarotsitzungen verdient. Die Realität hinter den Bildern oder besser gesagt, das, was von der Wirklichkeit noch übrig ist, entdeckt Katt erst, als sie über besagte Dating-App den zwölfjährigen Zeno und seine berückende Welt kennenlernt.
Der Junge, eine leider nur bedingt glaubwürdige Mischung aus Forscher und Heiligem, steht im Zentrum von Leona Stahlmanns zweiten Roman. Die Autorin, die vor zwei Jahren mit dem eindrucksvollen Roman „Der Defekt“ über ein BDSM-Pärchen in der Provinz debütierte, (BDSM ist ein Akronym für Bondage, Discipline, Dominance and Submission) hat nun mit „Diese ganzen belanglosen Wunder“ eine ambitionierte Romandystopie vor geschrieben, eine Mischung aus Climate Fiction und Nature Writing.
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https://www.tagesspiegel.de/kultur/leona...f/28614178.html
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