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Gesterntag, all mein Troubel in der Ferne lag

#1 von Karl Ludwig , 11.09.2023 11:47

In der guten alten Zeit, als Operationen ohne Narkose üblich waren und die Ärzte sich erst hinterher die Hände wuschen, als Pestwellen über die Lande zogen, grausamste öffentliche Hinrichtungen den Fernseher ersetzten, als es keine Gewerkschaften gab, oder Demokratie, Gott behüte, und Visionen einer Hildegard von Bingen die Leute total baff machten, wurde von dieser Dame der Grundstein gelegt für eine Mystik, welche heute noch beeindruckt.

Alleine die Kuchenrezepte sind ja schon ein Hammer. In ihre Möhrentorte könnte ich mich reinlegen. Wer sowas predigt, kann doch kein gänzlich schlechter Mensch sein. Sie wird nämlich auch als Heilige verehrt. Aber erst seit 2012. Na ja. Meinetwegen.

So. Genug Nett. Ist doch zurzeit mal wieder en vogue: Alles und immer im Kontext der jeweiligen Rahmenbedingungen interpretieren. Das bedeutet in diesem Fall: Sie hatte ja keine chemischen Ingredienzien wie: Ascorbinsäure, Natriumacetat, Zitronensäure, Phosphate, Mono- und Diglyceride (E471), Diacetylweinsäureester, Maltodextrin, kein Plastik für die Verpackungen und so, also konnte sie auch nur einen auf ökologisch und recycelbar machen.

Das zu loben wäre ebenso sinnig wie mich bewundern, weil ich nicht vom Eifelturm fiel, da ich noch nie da oben war.

Meine Nachbarin hatte mir früher ab und an Plätzchen nach Hildes Rezepten vorbei gebracht, wirklich unglaublich lecker, doch seit sie das Klavier, welches mir ihr Mann schenkte, unter Drohung mit Anwalt (Es würde zur Erbmasse gehören) entführte, nehme ich nichts mehr von ihr an.

Nun steht das Klavier in ihrem Flur dumm rum: Sie hat einfach nicht kapiert, dass Musikinstrumente keine Dekorationen sind, sondern dass es ihrem Wesen entspricht, gespielt werden zu wollen.

Resolute Tanten sind mir ein Greul! Ihr mickriger Mann lässt sich täglich bemeckern, dennoch ist er bemüht nett zu sein, kauft für sie ein und pflegt ihren Garten. Eine andere Tante hier verteidigt ihre lesbischen Neigungen dermaßen mit demonstrativem Mackertum, als ob sich irgendwer dafür interessieren würde. Schild an der Wohnungstür: „Wer das liest ist lesbisch“. Eine Nahkampf-Frust-Lesbe, auch wenn man so etwas nicht sagt. Weil es stimmt! Mir hat sie versucht zu verbieten, mit meinem Nachbarn über ihre verhaltensgestörten Köter zu lästern, nur weil diese den ganzen Tag lang kläffen (hat sie aus Bulgarien, oder Rumänien mitgebracht und ich habe ihr auch nicht erzählt, dass diese Mistviecher extra für so Idiotinnen wie sie gezüchtet werden).

Ach ja. In der guten alten Zeit spendete man solche Drecksköter den Universitäten für die Tiermedizinstudenten. In der guten alten Zeit gab es kein Dosenfutter, abgestimmt auf Hundemetabolien, gesünder als das, was Menschen so alles für essbar halten.

In der guten alten Zeit zog der Hufschmied die Zähne, manchmal mit etwas Kiefer dran. Man starb an Blinddarmentzündung, Abtreibungen wurden mit dem Schürhaken vollzogen, die Justiz lag in den Händen von Willkür und Standesdünkel, auf den Schlachtfeldern brachten sich Leute um, die sich noch nicht mal kannten (Nun gut, da hat sich nicht viel zum Besseren gewandelt), die Kirchen waren mächtig und oft fatal final zu Kritikern oder Sündern, jeder dritte Schiff ging innerhalb von fünf Jahren unter …

Ach ja, die gute alte Zeit. Und wisst Ihr was? Sie war es wirklich. In meiner Jugend. Es gab keine Lebensmittelindustrie und kaum Plastik. Die Meere waren noch halbwegs sauber, die Mädchen schlank und nett und unbekümmert (das Kümmern war mein Anliegen), es gab echtes Brot von echten Bäckern, Isettas, Wackelkopfhunde auf der Ablage neben einem gestrickten Überzug für das Toilettenpapier.

Meine private gute alte Zeit fing mit der Geburt an, erst in der Lebensmitte begriff ich widerwillig ihr Vergehen. Es waren herrliche Zeiten, damals in meiner privaten guten alten Zeit, wie geschaffen, sie entweder zu verklären oder zu bemängeln.

Jeder Tag war ein Abenteuer, Tante Armens Marmeladenbrote, schwimmen zwischen Inseln, Seidenraupen züchten, Gottesanbeterinnen und Skorpione einfrieren und nach Wochen wieder ins Leben auftauen, ganzes Lamm vom Spieß mit Raki kombinieren (und Kopfschmerztabletten, von der Sorte, die heute rezeptpflichtig sind), mit eigenem Boot nach Kleinasien übersetzen, dort in einem Fischrestaurant üppig für kleines Geld spachteln, nachts mit unserem Kapitän Hayek hinausfahren und angeln.

Warum ich dennoch der kompletten Welt die Gefolgschaft aufkündigte, mögen zukünftige Psycho-Historiker herausfinden. Vielleicht weil es mir einfach zu dämlich erschien, den Ansprüchen anderer zu genügen? Vielleicht weil ich dumm bin? Oder besonders klug?

Deswegen trauere ich der Vergangenheit nostalgisch hinterher. Wo gibt es heute noch ein echtes Wurstbrot? Jochen Malmsheimer hat darüber einen guten Sketch gebastelt. Wo tragen freie Bauern von Haus zu Haus große Pfannen mit Büffeljoghurt herum (wurde wohl verboten, als der erste Fabrikjoghurt auf den Markt kam. Ist halt eine liebenswerte Bakschischkultur).

Wer lässt heute noch seine Schuhe reparieren? Dieser Geruch in der Schusterwerkstatt. Gut, Pellkartoffeln, Butter, Salz und Brathering kann man heute immer noch zusammenstellen, aber es schmeckt nicht mehr so, wie in der guten alten Zeit.

Die gute alte Zeit war definitiv besser als die heutige. Und morgen wird es noch schlimmer.

Seht Euch vor. Ich kann nicht auch noch mit auf Euch aufpassen.

Meine Güte. Was für eine lange Adresse.

https://www.google.com/search?q=Wurstbro...iciN5y6nF0,st:0


Zehn Weise können nicht einen Idioten ersetzen!

Karl Ludwig  
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zuletzt bearbeitet 11.09.2023 | Top

RE: Gesterntag, all mein Troubel in der Ferne lag

#2 von Sirius , 11.09.2023 17:20

Meintest du: Wurstbrot komödiant Pisper

Google ist frech, doof und gierig nach Daten. Und weil auf meinem Laptop offensichtlich seltsame Ereignisse vorsichgehen, hat Google beschlossen, unzählige Fenster aufzupoppen, in denen ich Autos und Zebrastreifen auswählen soll. Denn Google mag nicht, wenn jemand mit VPN unterwegs ist und nicht weiß, wo er steckt.
So trennten wir unsere Zusammenarbeit, aber den genialen Wurstbrot-Sketch kenne ich natürlich. Die wenigen Dinge, die in diesem Land noch lustig sind, sind mir geläufig.

https://www.youtube.com/watch?v=1iciN5y6nF0


Zu deiner Nostalgie, die ich selber auch schon oft beschrieben habe, wenn man dann auch mal meine Satiren lesen würde, kann ich deiner Melancholie nur zustimmen. Schon alleine der tägliche Anblick dieser Smartphone-Mutanten ist mir seinerzeit erspart geblieben, diese asozialen Netzwerke, das ungefragte Herausschreien der offenbar ansteckenden deutschen Dummheit (z.B.: Fahren Sie auch in diesem Bus?), diese ganze hysterische Überwachung, die sich in der Profitgier widerspiegelt und die einfache Erkenntnis, dass diese Welt kein Ort ist, auf dem man sich niederlassen sollte.
So bleiben wir denn Brüder im Geiste, die sich an einem Wurstbrot erfreuen können oder an genialen Komödianten.
Und dein langer Text war wunderbar!

Sirius


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