Anna Burns: Milchmann
Auf dem Höhepunkt des Nordirlandkonflikts in den 1970ern ist Mittlere Schwester gerade 18 und steckt noch voll und ganz in ihren Büchern aus einer Zeit vor dieser Zeit, als das Leben noch nicht so kompliziert war. Sie liest im Gehen, ihrer Umgebung keine Beachtung schenkend, auf dem Weg von zu Hause zu ihrem Vielleicht Freund, der am anderen Ende der Stadt wohnt, und zurück. Sie passiert die Trennstraße, die eine Religion von der anderen, Staatsbefürworter von Staatsverweigerern trennt, sie passiert 10-Minuten-Gegend, bei der man 10 Minuten zum Durchqueren braucht, in der es ein Bombenanschlag gegeben hat und sich niemand lange aufhalten sollte.
Gefangen in ihrer Routine und den Kopf voller Fragen nach der Zukunft, bemerkt sie zunächst den weißen Lieferwagen nicht, der sie verfolgt und schließlich hält. Ein Mann um die 40 bietet ihr eine Mitfahrgelegenheit an. Er scheint unser Mädchen zu kennen, doch diese steigt nicht ein und weist auch alle anderen Annäherungsversuche mit ausdruckslosem Desinteresse ab. Trotzdem ist sie alamiert und bemerkt plötzlich Kameras, die sie fotografieren, Menschen die sich ihr gegenüber merkwürdig verhalten. Gerüchte um eine Beziehung zu diesem Mann, dem Milchmann, machen die Runde und je mehr die junge Frau sich dagegen wehrt, umso schlimmer werden sie. Schließlich droht dieser Mann indirekt damit, ihren Vielleicht Freund umbringen zu lassen und tatsächlich ändert unsere Protagonistin ihr Verhalten. Sie liest nicht mehr im Gehen, sie reduziert die Besuche bei ihrem Freund und schließlich vertraut sie sich ihrer ältesten Freundin auf einer Party an. Mittlere Schwester wird dort vergiftet, doch die "Attentäterin" stirbt kurz danach.
Diese sarkastisch, trockene Geschichte um ein junges Mädchen auf der Schwelle zur Erwachsenen, die von einem einflußreichen alten Mann auserkoren wird, seine Geliebte zu sein, erscheint anlässlich Zeit und Ort in einem gänzlich sonderlichen Licht. Ihre Familie und die Familien der Nachbarn sind kinder-, aber auch verlustreich. Alle haben sie Söhne, Väter, Brüder und Freunde im Guerillakampf in den Straßenschluchten der nordirischen Städte verloren. Jede kennt die Mütter, Töchter und Schwestern, die durchgedreht, kopflos und stumpfsinnig angesichts der irrsinnigen Gewaltakte geworden sind. Auffälig sind auch die Namenlosen Namen der Beteiligten, Städte und Staaten. Sie werden durch ihre Eigenschaften betitelt und fügen sich so wie ein passendes Puzzleteil in die Kreuzzüge von Staat und Religion.
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