"Wie schreibt man denn Boogie-Woogie?
Rückwärtsgewandt, aber erschreckend gegenwärtig: Adam Zagajewskis letzte Gedichte erscheinen drei Jahre nach seinem Tod erstmals auf Deutsch.
Dies ist der letzte Gedichtband des 2021 gestorbenen Adam Zagajewski. Die polnische Originalausgabe ist 2019 erschienen und nun, wie immer, von Renate Schmidgall ins Deutsche übertragen worden. Übersetzer werden meistens am Ende von Rezensionen erwähnt, aber man darf sie auch einmal am Anfang loben. Ohne Renate Schmidgall würden die wenigsten von uns Zagajewskis Poesie kennen, damit hätten wir vieles versäumt, und zudem bietet Schmidgalls Deutsch einen Genuss, denn es ist von gedanklicher Klarheit, bildlicher Präzision und einer Haltung der Ruhe bestimmt. Hier wird einfach und gleichzeitig eindringlich gesprochen, sodass die Welt von Zagajewskis Gedichten mit festen Konturen hervortreten kann.
Es ist eine Welt voller Trauer und voller Erinnerungen an die Katastrophen und Verluste der jüngeren Geschichte. Das Ich, das hier spricht, ist nicht einfach nur sehr alt und kann deshalb ein „Selbstporträt am Tropf“ zeichnen, sondern es bewegt sich auch vornehmlich in der Vergangenheit. Selten blitzen aus den Elegien und Ängsten plötzlich Heiterkeit und Witz auf: „Du rufst aus dem Nebenzimmer / Fragst wie man Boogie-Woogie schreibt / Und ich denke sofort was für ein Glück / dass kein Krieg ausgebrochen ist / und kein großes Feuer die historischen / Denkmäler unserer Stadt verzehrt hat / unsere Körper und Wohnungen.“ Die Antwort an das fragende Du am Ende des Gedichts lautet: „man schreibt’s wie man’s spricht, / einfach Boogie-Woogie“, und tatsächlich lebt das Wort Boogie-Woogie mindestens genauso von seinem Klang wie von seiner Bedeutung.
Aber diese Töne sind rar, stattdessen werden verstorbene Freunde, verlorene Gegenstände und historische Ereignisse heraufbeschworen. Zagajewskis biographische Urerfahrung ist die der Zwangsumsiedlung seiner Familie aus dem polnischen Lemberg (damals Lwów) im Rahmen der sogenannten Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg. Zagajewski, 1945 geboren, erlebte sie selbst als Kind und in den immer präsenten Erzählungen seiner Familie.
Die Metapher des Türriegels
Was ein Gedicht in solchen Zusammenhängen leisten kann, zeigt Zagajewski, wenn er von einem Türriegel berichtet. Sein Großvater unterrichtete an der Universität in Lemberg Deutsch, und um das Zuspätkommen von Studenten zu unterbinden, schob er kurz nach acht Uhr den Türriegel im Vorlesungssaal zu. Aus dieser Episode der ersten Strophe lässt der Autor in der zweiten Strophe seine Phantasie hervorsteigen: „Sie aber schliefen, schliefen lange, glücklich, / wussten nicht, dass diese Stadt untergehen würde / zusammen mit dem Riegel, dass alles ein Ende hätte / in Abtransport und Exekutionen, in Tränen, / und dass dieser Riegel einst / eine idyllische Erinnerung wäre, / eine Brosche aus Herculaneum, ein Schatz.“ Dieser Türriegel der alten Lemberger Universität, an der verschiedene Sprachen und Kulturen nebeneinander gelehrt wurden, existiert nur noch in der Wirklichkeit des Gedichts. Zagajewski hat ihn unter Schutt und Asche wie aus dem antiken Herculaneum geborgen. Der Riegel konnte zwar zu spät kommende Studenten abhalten, aber die schläfrige Idylle des Vorlesungssaals nicht vor dem Einbruch der Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts schützen..."
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Schenke der Welt mein Lächeln,
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