Brave Ware Welt
Zur Verleihung des Büchner-Preises an den Lyriker Jan Wagner
Von Su Tiqqun
Wenn Literatur sich nur darauf beschränkt, »das Gefühl des Zuhauseseins, der Heimeligkeit zu stiften«, notierte Volker Braun 1969, »aber die sozialen Bedingungen nicht wahrhaben wollte oder vergäße oder übertünchte, liefe sie Gefahr, sich dem Leben zu entfremden. Sie würde Idyllen liefern, und ihre ›schönen‹ Menschen würden bloß dumme Menschen (…) ihre einsichtigen Helden bloß Waschlappen sein.« Die Kraft einer solchen Literatur wäre die Fliehkraft, die Literatur flöge vom Leser losgelöst durch den gefeierten Orbit.
Ende Oktober hat die Akademie für Sprache und Dichtung den Georg-Büchner-Preis Jan Wagner verliehen, dem heimeligsten Idyllenlyriker, der aus dem deutschen Sprachwald herausragt. Seine Gedichte kennen keine »offenen Wunden«, auf die Heiner Müller ausdrücklich verwiesen hatte, als er 1985 den Preis bekam. Und anders als Büchner würde Wagner nicht »die abgelebte, moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen«, wie Büchner in einem Brief aus der Entstehungszeit seines Theaterstücks »Leonce und Lena« schrieb.
Jan Wagner ist die wohltemperierte Schmierseife unserer zerlebten, modernen Gesellschaft, er ist der Lieblingsdichter deutunghoheitlicher Gremien im Literaturbetrieb. Er schreibt besonnen, verschmitzt und angenehm assoziativ. Er tupft seine Verse mit Leichtigkeit dahin. Kein Wort, das vor den Kopf stoßen könnte. Niemals. Diese tadellos geschwungenen Betrachtungen sind reibungslose Perfektion. Er »nimmt Weidenkätzchen und Würgefeige, Morchel und Melde, Eule, Olm und Otter ins poetische Visier, zoomt ran, überblendet assoziativ, bis der Blick sich weitet und man weiß für einen Augenblick, zum Wesen der Dinge vorgedrungen zu sein«, jubilierte ein Klappentext des Kookbooks-Verlages, dessen Schmuckstück Jan Wagner ist.
Doch das Wesen der Dinge besteht in ihrer fetischisierten Funktion im Kreisverkehr der Ware mit der Ware, die Dinge haben ein giftiges Herz, ihr Wesen ist Illusion, ihr Charakter die Unnatur. Vielleicht will das janwagnerianische Weltgepinsel genau das widerlegen und den Dingen das Authentische zurückgeben, ihren natürlichen Wert, ihr harmloses Sein, ihr Spektakel und ihre Sensation, die voller Sinn ist und sich der Entfremdung zu widersetzen weiß. Vorbehaltlos umflort er unsere schöne, heile Welt, aus der jede Verantwortung, jeder Bruch, jeder Widerspruch getilgt ist. Sein »Versuch über Seife« ist so ein schockierendes Kunststück, dem das Unmögliche gelingt: die deutsche Schuld reinzuwaschen: »ein stück war immer in der nähe / folgte seinen eigenen phasen / wurde weniger wie fast alles / stand dann wieder voll / und leuchtend weiß in seiner schale // wog wie ein stein in der faust / schäumte auf, wurde weicher: man wusch sich von kain zu abel // einmal vergessen, verwitterte sie / zum rissigen asteroidensplitter/ ruht jetzt feucht und glänzend / wie etwas, das vom grund des sees / heraufgetaucht wird, sekundenlang kostbar / und alle sitzen wir am tisch: / mondloser abend / duftende hände.« Soviel Soap muss sein. Wir Deutschen: aromatisch glattgeputzt und wohlriechend.
Das ist dem Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung nur recht und willig. Die Erwählten müssen nur »in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten und an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.«
Geschichtsvergessenheit lohnt sich. Die Wunde Woyzeck muss vernarben. Sonst wäre der Preis unvergebbar. Wer unter den Abonnenten der Stipendien hätte dann noch ein Anrecht auf das Büchner-Preisgeld? Jemand, so Jan Wagner in seiner Dankesrede, »der die Nichtigkeiten einer Biographie [in diesem Fall Büchners] in ein stimmiges Gemälde zu überführen versteht«, jemand, der »aus der Überzeugung heraus, dass noch das Geringste zum Gedicht werden kann« zum Minne-Champion wird. Und das zu Recht. Denn Wagners Logik unterscheidet sich nicht von der des Systems, das ihn hervorgebracht hat. Denn Jan Wagner ist niemand, der »die herrschenden Verhältnisse umwerfen will«. Er schafft ästhetisch eloquente Miniaturen, die mit den Dingen flirten. Es gelingt ihm, die Welt von ihren Widersprüchen zu befreien. Dabei ist es ihm »gleichgültig, ob ein Hundsstall oder eine historische Figur am Anfang stand, weil das gelungene Gedicht unwiderstehlich dazu einlädt, die Welt neu zu sehen und damit neu zu denken«. Er erfindet eine Welt ohne Konflikte, die so harmlos ist wie der Livekick der Postdramatik, die die barbarische Wirklichkeit einfriert und verewigt.
Quelle: Junge Welt, 8.11.17