Der Jahrestag
Als ich abends einmal traurig war,
küßte ich dich flüchtig auf dein Haar,
küßte länger dich auf deine Lider
und du küßtest auf den Mund mich wieder.
Nichts war damals zwischen mir und dir
als die oft und nie gestillte Gier
und vielleicht die Trauer um den Schatten
eines Glücks, das wir verloren hatten.
Aber als der Tag im Fenster stand
und ich dein Gesicht sah, das der Wand
zugedreht bleich lag auf deinen Armen,
fühlte ich nicht nur mit mir Erbarmen.
Sacht hob ich mich fort aus deiner Näh,
ließ das Bad ein, stellte auf zum Tee,
stellte in die Vase frische Reiser,
küßte dich dann lange und doch leiser.
Und du sahst mich erst verschleiert an,
kamst vom Bad noch feucht zurück sodann,
strichst die Butter und mit stummer Bitte
reichtest du mir die gebähte Schnitte.
Und ich sah dich, wie ich nie dich sah,
anders kamen wir uns schweigsam nah;
laß des Tages gut uns noch gedenken
und uns oft einander noch beschenken.
Theodor Kramer
Aus: Laß still bei dir mich liegen
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