Der Tempel brennt
Erstveröffentlichung nach siebzig Jahren: Mela Hartwigs Roman Inferno schildert das taumelnde Wien im Jahr 1938.
Die Stenotypistin Aloisia Schmidt ist sich selbst und anderen ein apartes Rätsel. Aloisias Schöpferin Mela Hartwig erregte zur Blütezeit der Neuen Sachlichkeit beim allgemeinen Publikum wie bei Psychoanalytikern Aufsehen durch ihre kühnen Büroromane aus weiblicher Sicht. Fräulein Schmidts Erlebnisse mit wechselnden Dienststellen und Männern beschreibt Mela Hartwig in dem ihr eigenen nüchternen und im nächsten Moment fesselnden, fiebrigen Duktus. „Bin ich ein überflüssiger Mensch?“: Was für eine Frage, was für eine Anmaßung.
Dem Literaturverlag Droschl gebührt das Verdienst, seit 2001 mit der Veröffentlichung von Bin ich ein überflüssiger Mensch? Mela Hartwigs Werk wiederentdeckt und zugänglich gemacht zu haben. Bis 2004 wurden noch Das Weib ist ein Nichts und der Prosaband Das Verbrechen aus dem Nachlass publiziert. Er enthält neben Hartwigs Debüt Ekstasen auch die Novelle Das Wunder von Ulm, die Hartwig 1936 im Pariser Exilverlag Éditions du Phénix unterbringen konnte. Sie wählt eine mittelalterliche Szenerie, um hellsichtig zu beschreiben, wie das Judenviertel einer kleinen deutschen Stadt aufgrund eines angeblichen Hostiendiebstahls durch eine „furchtbare Feuersbrunst“ eingeäschert wird.
Dieser ernste, kaum verklausulierte politische Ton prägt auch Mela Hartwigs Roman Inferno, den sie nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste und der jetzt zum ersten Mal erscheint. 1948, zehn Jahre nach der Emigration, war sie mit ihrem Mann Robert Spira zu Besuch in die alte Heimat Graz gekommen. Die Leute in der Steiermark hätten sich bei ihrem Anblick „geschreckt“, erinnerte sich der prominente Rechtsanwalt Spira im Rückblick. Nach dieser Enttäuschung kam für die jüdischen Emigranten eine Rückkehr aus dem Londoner Exil nicht in Frage. Dort reüssierte Hartwig unter ihrem Ehenamen Mela Spira als Malerin und starb 1967. Ihren letzten Roman Die andere Wirklichkeit konnte sie nicht mehr beenden, und auch das Manuskript von Inferno blieb unveröffentlicht.
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