Was macht die Flocke, wenn es taut?
Von dunklem Blau ins tiefste Schwarz: Jan Wilms „Winterjahrbuch“ ist ein zitatreicher Monolog über den Schnee – und den Autor selbst. Bei dieser Lektüre sollte man wissen, worauf man sich einlässt.
Dieses Buch, so viel steht schon einmal fest, ist das dunkelste, traurigste Buch, das die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in diesem Jahr bislang hervorgebracht hat. Der erste Satz lautet: „Die Träume sind tot, es gibt nur noch gestern.“ Und der letzte: „Wenn die Männer . . . kommen, um mit ihren Flammenwerfern den Schnee wegzutauen, dann könnten sie mich gleich mit fortbrennen, und es passierte niemandem ein Unglück.“ Wenn dieser Roman auf seinen mehr als 450 Seiten eine Entwicklung nachzeichnet, dann ist es eine Entwicklung in Nuancen, nämlich von einem dunklen Blau in ein tiefes Schwarz, vom Gehenlassen aller Hoffnungen in einen lebensverachtenden Nihilismus. Man sollte wissen, worauf man sich mit dieser Lektüre einlässt – es wird ja auch bald Herbst.
Jan Wilm, der als Literaturwissenschaftler, Kritiker und Übersetzer arbeitet, ist nicht bloß der Autor dieses Buches (seines Romandebüts übrigens), sondern auch sein Erzähler. Eine knausgårdische Beglaubigungsgeste verbindet sich damit aber nicht: Das Ich wird in diesem Buch als sprachliche Hervorbringung betrachtet, weshalb das leibhaftige und das literarische Ich ein Kontinuum zwischen Fakt und Fiktion bilden. Der Erzähler schildert diese Auffassung ganz unaufgeregt, was daran liegen mag, dass sie zum intellektuellen Grundbestand der Moderne gehört: „Ich hätte mich manchmal gern gefragt, ob ich anders leben könnte als in Sprache, als in einer einzigen Ich-Sprache.“ Anders im Ton, aber kaum im Gehalt, haben es schon Nietzsche, Hofmannsthal und Rilke formuliert.
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