Ein Sternekoch leidet an der Bahn
Andreas Kleber war nicht nur Sternekoch, er ist so etwas wie das inoffizielle Gedächtnis der Bahn. Er sammelt Fahrpläne und Kursbücher, hat unzählige Zugverbindungen im Kopf – und ist damit auch Chronist eines entgleisten Konzerns. […]
Wahrscheinlich merken die meisten Reisenden gar nicht, wie die moderne Bahn schleichend schleichender wurde, parallel zu ihrem allgemeinen Zerfall, einige Beispiele: 2007 war man von Hamburg in Berlin zwölf Minuten schneller als heute, die Hauptstadt erreichte man 2007 von Frankfurt aus gut eine halbe Stunde eher als heute. Und wer von Hamburg nach Freiburg will, sitzt nun 19 Minuten länger im Zug als vor einem Vierteljahrhundert, wer von Stuttgart nach München fährt, ist heute 16 Minuten länger Gast der Bahn als 1995.
Wer jetzt von Hamburg nach Westerland auf Sylt möchte, sagt Kleber, “braucht 36 Minuten länger als 1972, wer von Köln nach Hamburg möchte, sitzt heute 37 Minuten länger im Zug als 1989.” Der ICE von Aachen nach Brüssel wurde vor neun Jahren mit genau einer Stunde Fahrzeit beworben, heute ist er 74 Minuten unterwegs – falls mal einer fahrplanmäßig durchkommt. 1939, vor genau 80 Jahren also, kam man von Berlin nach Breslau in zweieinhalb Stunden. Und heute? Da braucht man Geduld, gute Bücher, Wein, irgendwas, man hat auf jeden Fall sehr viel Zeit für sich. Die Fahrt dauert doppelt so lang, im schnellsten Fall fünf Stunden 17 Minuten, häufig jedoch über sieben Stunden.
Von meinem Heimatort Königsbronn dauerte 1990 die Fahrt nach Hamburg fünf Stunden 23 Minuten, heute sind es im besten Fall sechs Stunden 53 Minuten, oft sieben Stunden 45 Minuten, auch mal neun Stunden 26 Minuten – obwohl damals die Milliarden teure Schnellstrecke zwischen Würzburg und Hamburg noch nicht vollständig ausgebaut worden war, obwohl es damals noch keine ICEs gab.
Noch eine Zahl: Im Sommer 1901 betrug die Fahrzeit von meinem Heimatdorf nach Ulm laut Fahrplan eine Stunde 12 Minuten. Heute sitzt man für die knapp 50 Kilometer genau eine Stunde im Zug.
Was für ein Fortschritt in 118 Jahren!
Quelle: Kontext: Wochenzeitung
https://www.nachdenkseiten.de/?p=55502#h01
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