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Venceremos

#1 von Karl Ludwig , 07.11.2019 08:31

Die Jahre fließen ineinander, sie verschwimmen. War es 1970, 71, 72, 73 oder gar 1969? Ich hatte einige Monate unter abenteuerlichen Bedingungen in Berlin hinter mir, und galt deswegen als Front erfahrener Nahkampfkämpfer.

Jürgen eröffnete eine Kaschemme, Teestube, Dealercorner, Saufzerei, halt einen Treff für Dropouts… nannte diesen Venceremos, stellte eine große Platte Schmalzbrote in den Qualm und spielte Degenhardt, Tangerine Dream, Pete Seeger, Velvet Underground, Pink Floyd und Ähnliches. Selbst Hannes Wader und Reinhard Mey tranken manchmal ein untergäriges Subversivbier.

Dann lieh sich der Wirt 1.000,00 DM bei meinem großen Bruder, welcher Porsche fuhr und sich nach der Schicht in der Feldmühle, einer Papierfabrik, als Dealer versuchte.

Jürgen zahlte nicht zurück, mit der Begründung, dass, wenn mein Brüderchen Tam-Tam machen würde, die Bullizei von seinem Nebenerwerb erfahren könnte.

Nun, ich bin in der Türkei groß geworden. Die Familienehre stand auf dem Spiel!

Ich empfahl meinem Bruder, einfach abzuwarten. Er zog nach Bonn, studierte Jura und Wirtschaftswissenschaften, also legales Bescheißen, und besorgte sich einen weniger auffälligen Wagen. Inzwischen war nämlich die Erbmasse vom Testamentvollstrecker unseres Vaters freigegeben worden. Geld hatten wir also erst mal genug, ich allerdings nicht sehr lange. Mein Bruder kam schlagartig zur Vernunft, heiratete eine damals bildhübsche Anwaltstochter, schloss das Studium als natürlich Bester ab und wurde staatlich geprüfter Buchprüfer, dicklich und Vater von drei Söhnen. Außerdem wurde er zum Schlauschwätz, aber einem lieben, der mir in späteren Jahren auch öfters dabei half, meinen Arsch zu retten.

Ich aber wahrte die Familienehre. Ich stieg eines Nachts mit zwei Kumpels ins Venceremos ein. Wir transportierten sämtliche Alkoholvorräte weg, leerten die Flipper, Spiel- und Zigarettenautomaten nebst Wechselgeldkasse.

Am nächsten Tag lustwandelte ich justement zufällig vorbei, während Jürgen seinen Laden aufschloss und lachte hämisch vor mich hin. Als die Polizei kam, ließ sich Jürgen zu einem: „Ich weiß genau, wer das getan hat!“ hinreißen. „Ja! Ja!! Ja!!! Wer denn?“ Doch leider ließ er sich nicht zu einer Verleumdung hinreißen mit zwei Bullißißten als Zeugen.

Wir hatten um die 2.000,00 DM an Bargeld und Ware, fuhren mit einem Bulli auf ein Rockfestival und verkauften den Großteil der Beute aus dem Auto heraus. Ich glaube es war in Düsseldorf, doch die Erinnerungen verschwimmen, so wie die Jahre seit einiger Zeit in einander fließen.

Einige Monate später vertrugen Jürgen und ich uns auch wieder. Er hatte wohl ausreichend Geld von der Versicherung bekommen, oder vielleicht auch geerbt, so wie wir, und war vermulich ganz zufrieden, nun eine ganz normale Kneipe eröffnen zu können, denn am Herzen hatte er es tatsächlich auch schon, nicht nur am Kopf. Ich war froh, dass wir uns wieder grüßten, denn zwei – drei Jahre danach starb er bis er tot war, und das gönnte ich ihm von Herzen nicht.

Aus dem Venceremos wurde eine Tischlerei, aus meinem Bruder ein Selbstständiger und aus mir wurde nichts, das aber in überdurchschnittlicher Qualität.

Ich bereue natürlich nicht! Aber mein Leben albern zu finden, das gestatte ich mir immer öfter.


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RE: Venceremos

#2 von Sirius , 07.11.2019 19:03

Ich finde dein Leben gar nicht albern, sondern sehr bewegend und abwechslungsreich.
Es ist erstaunlich, welche Details du noch aus deiner Jugend weißt und wie unterhaltsam du sie in die Geschichte bringen kannst.
Diese wilden Jahre waren nicht die schlechtesten des Lebens, auch wenn wir sie im Nachhinein etwas verklären.
Mir hat deine Geschichte sehr gefallen und auch meine Erinnerung wieder raufgeholt.

Sirius


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RE: Venceremos

#3 von Karl Ludwig , 07.11.2019 19:51

Ich weiß nicht mehr die genauen Datumsdaten. Mir tropfen aber jede Menge Details aus dem Brägen. Wie Hartmut in der entsprechenden Nacht bei einer Personenkontrolle in seine Brusttasche griff, und als er uns zwei Andere sagen hörte: 'Ausweis habe ich nicht dabei', die Hand wieder zurückzog und trotzig meinte: „Dann habe ich auch keinen dabei“, woraufhin die Beamten ihre Aufmerksamkeit auf einen viel zu schnell vorbei fahrenden Wagen richteten, sich vermutlich dachten: „Komm, die sind harmlos.“ und dem Raser hinterherfuhren.

Kleines Wort zur Verklärung: Vielleicht! Obwohl ich wirklich bemüht bin, nur die Wahrheit, die reine Wahrheit, so wie mir wer auch immer helfe, zu schildern. Ich glaube die Verklärung entsteht durch Kompression. Durch das Weglassen von Nebensträngen wie Toilettengänge und/oder InDerNaseBohren. Auch die Wartezeiten, in denen überhaupt nichts passiert, werden selten in entsprechender Länge literarisch verwertet.

Wie Hannes Waader auf dem Parkplatz vor dem Venceremos ein kleines spontanes Konzert abhielt. Mit Werner Lämmerhirt. Wie ich mich während einer Razzia laut über die grüne Scheiße beschwerte, wie ich nach einem Erwerb von jeder Menge Pantopon einmal wochenlang hinter einer Disko im Garten schlief. Das muss gewesen sein, als Udo Lindenberg 'Letzte Nacht hatte ich eine Erscheinung' sang, Nachschlag, also 1973. Wie ich allerdings an das Standgefäß gekommen war, weiß ich nicht mehr. Wundert mich aber kein bisschen. Usw. usf.

Ich habe doch nicht mehr viel mehr als meine Erinnerungen und Schokoladenpudding.


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