Schlag in den Magen
Von Dieter Reicherter
Der ehemalige Richter Dieter Reicherter erlebte den Polizeieinsatz gegen S-21-Gegner am 30. September 2010 hautnah mit. Zehn Jahre später rekapituliert er die juristische Aufarbeitung des Einsatzes – und kritisiert, dass objektive Ermittlungen ausblieben und viele Straftaten ungeahndet sind.
Dank an Bundsinnenminister Horst Seehofer. Er hat mir ungewollt mit seiner Äußerung zu rechtsextremen WhatsApp-Gruppen bei der Polizei in einem "Bild am Sonntag"-Interview die passende Überschrift zur juristischen Aufarbeitung des Polizeieinsatzes am Schwarzen Donnerstag im Stuttgarter Schlossgarten geliefert. Beim Schreiben kommen die Erinnerungen, wie ein braver Staatsbürger und soeben pensionierter Richter, der am 30. September 2010 zufällig in Stuttgart war und sich für den Ablauf eines Polizeieinsatzes interessierte, plötzlich abseits des Geschehens zum Opfer eines Wasserwerferangriffes wurde. Und dies ohne jegliche Vorankündigung und ohne jegliche polizeitaktische Notwendigkeit. Das Gefühl der Ohnmacht angesichts des brutalen rechtswidrigen Vorgehens des Staates gegen seine eigenen Bürger hat mich in den zehn Jahren, in denen ich mich um eine Aufklärung des Geschehens bemühe und für Demokratie und Gerechtigkeit arbeite, nie mehr losgelassen.
Aber ganz vergeblich war die Arbeit nicht. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat am 18. November 2015 ein bahnbrechendes Urteil gefällt. Demzufolge waren der Polizeieinsatz und die dabei getroffenen Maßnahmen rechtswidrig. Der lange Kampf für Recht und Ordnung – um diese Begriffe einmal mit richtiger Zielrichtung zu gebrauchen – hat sich also gelohnt. Zitat aus dem Urteil: "Die Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer Demokratie gebietet stets die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes, wenn die Grundrechtsausübung durch ein Versammlungsverbot tatsächlich unterbunden oder die Versammlung aufgelöst worden ist; derartige Eingriffe sind die schwerste mögliche Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit. (...) Wenn der Staat – vorliegend der Polizeivollzugsdienst – einer Menschenansammlung von vornherein den Schutz des Artikels 8 GG abspricht und gegen sie mit dem Instrumentarium des allgemeinen Polizeirechts vorgeht (...), wird die Versammlungsfreiheit (...) ebenso schwer, wenn nicht gar noch schwerer beeinträchtigt als im Fall eines Versammlungsverbots oder einer Versammlungsauflösung."
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https://www.kontextwochenzeitung.de/gese...magen-7020.html
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