Anders, jeden Tag
Aufregend erzählt Olivia Wenzel vom Fremdsein und der Vergeblichkeit des Weglaufens
Wie viel Differenzerfahrung kann ein Mensch ertragen? Wie viel Spaltung? Diesen Fragen nähert sich Olivia Wenzels Debütroman 1000 Serpentinen Angst. Er erzählt von einer jungen Frau, die (gefühlt) durch tausend und mehr Formen der Differenz markiert ist: Sie ist eine farbige Frau in einem sehr weißen Bundesland (Thüringen). Der Vater schwarz, Angolaner, die Mutter weiß, einst eingesperrt in die DDR, nun, in der wiedervereinigten BRD, fühlt sie sich nicht weniger unfrei. Obendrein ist sie Ostdeutsche, in einem Land, das mit seinem Osten fremdelt. Fremd erscheint sie ihren Mitbürgern, die aber doch erleichtert sind, dass die junge farbige Frau kein Flüchtling ist. Immerhin, sie kann ja Deutsch. Dass sie darüber hinaus nicht hetero ist, oder nicht nur, krönt sie gewissermaßen zur Queen der Marginalisierten.
Da hilft nur die Flucht. Aber wegrennen vor sich selbst, das geht nicht. Nicht einmal in New York, wo sie schließlich landet. Szenen der Idylle. Schwarze Frauen in Harlem, die die junge Frau allmorgendlich grüßen oder „Keep up the good work“ rufen, wenn sie an ihnen vorbeijoggt. Das Gefühl, dass man einer Gemeinschaft angehört, obwohl man einander nicht kennt. Und das, was die Gemeinschaft ordnet und zusammenführt, ist die Haut, deren Farbe, die anderswo Differenz markiert. Nicht dass die USA ein Hort der Rassenversöhnung wären. Auch hier herrschen schreiende Ungerechtigkeiten. Da dämmert es der jungen Frau: dass die magische Gemeinschaft, in der sie sich sofort zu Hause fühlt, das Ergebnis von Sklaverei, Rassentrennung und täglicher Diskriminierung ist.
Zurück in Deutschland ist die Situation eine ganz andere. „In Deutschland neigt man zu gewalttätigen Übertreibungen. I would kill them if I could. Leute zünden Wohnheime an, rufen Refugees so lang ‚Spring doch‘ zu, bis die sich aus dem Fenster der Unterkunft stürzen …“
Aufregend erzählt ist all das. In dichten Motiven und mit Umkreisungen. Immer wieder findet sich die junge Frau an Transitorten, die nicht nur ihren Status als Grenzgängerin markieren. Das Ganze ist die Selbstbefragung eines Ichs, ein Dialog zwischen Ich und Selbst, die sich nicht zu einer Einheit überblenden lassen, ein schönes, ein treffendes Bild für eine Person, die gespalten ist. Nicht pathologisch, nicht psychiatriereif, obgleich sie eine Zeit lang bei Therapeuten Hilfe sucht.
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