Harald Martenstein: „Wut“ – Requiem für die prügelnde Mutter
Harald Martensteins Roman „Wut“ handelt vom emotionalen Erbe, das man nicht los wird.
Anfang der 80er Jahre war die polnisch-schweizerische Psychologin Alice Miller mit populärwissenschaftlichen Büchern erfolgreich, die sich mit den Traumata frühkindlicher Erziehung befassten. Ein Kind, so eine ihrer Thesen, lerne nicht das, was ihm mit Worten beigebracht werde, sondern das, was sein Körper erfahren habe. Ein geschlagenes, verletztes Kind neigt dazu zu schlagen und zu verletzen, das beschützte und respektierte Kind ist bereit, Schwächere zu respektieren und zu beschützen. Ein sich wiederholender Kreislauf – im Guten wie im Schlechten. Zur Geschichte dieser Erfahrungen gehört laut Miller auch die spätere Idealisierung der Eltern. Man vergisst, um sich vor dem Schmerz der einst erlittenen Verwundungen zu schützen.
Vom Vergessen ist viel die Rede in Harald Martensteins Roman „Wut“, in dem er seinen Ich-Erzähler Frank die Qualen einer von Brutalität gezeichneten Kindheit durchleben lässt. Seinen Vater habe er geliebt, schreibt Martenstein im Prolog. „Vor meiner Mutter hatte ich Angst.“
Diese Angst wird dem Leser in einem verstörenden Auftaktkapitel nahegebracht, in dem Frank eine motivationslose Prügelattacke der Mutter ausgiebig schildert. Maria zerrt ihn unterm Bett hervor, um ihn, wie man früher sagte, windelweich zu schlagen, zu beschimpfen und zu demütigen. Die Rage einer Strafenden bar jeder pädagogischen Absicht.
Harald Martenstein, Jahrgang 1953, gehört einer westdeutschen Generation an, in der körperliche Gewalt zum Erziehungsrepertoire der Zeit gehörte. Die gewissermaßen als Ouvertüre des Romans geschilderte Raserei stellt dennoch eine Ausnahme dar, schon deshalb, weil familiäre Gewalt eher als Sache des Vaters angesehen wurde. Der aber war im hier verhandelten Fall bereits fort. Maria verprügelte den Jungen nicht zuletzt deshalb, weil sie ihren Ehemann als schwach erlebt hatte. Wütend beklagte sie ihre verpassten Chancen und Sehnsüchte.
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