Matthias Jügler: „Die Verlassenen“
Die Lebensgeschichte von Johannes Köhler ist vergiftet. Sie kann keinem Faktencheck standhalten. Sie ist voller Verluste, was schon schlimm genug wäre. Aber selbst diese Verluste sind nicht sicher und mit Rätseln verbunden.
Dass die Wahrheit über den Schlüsselmoment, der Johannes’ Biografie verpfuscht, ausgerechnet in den prinzipiell unzuverlässigen und potenziell fingierten Stasiakten dokumentiert wird, ist ein literarischer Clou des in Leipzig lebenden Schriftstellers Matthias Jügler. Er spielt ein bitteres Spiel mit der Authentizität, zumal die Akten in sehr echt wirkenden Pseudofaksimiles in das kleine Buch eingeschaltet sind. Es gibt Fotos, Rechtschreibfehler, blasse Schrift; das schlechte Papier scheint nach Staub und dem Spiritus des Ormig-Kopierverfahrens zu riechen.
Der Icherzähler Johannes ist wie Jügler Anfang der achtziger Jahre geboren und in Sachsen aufgewachsen. Johannes verliert im Alter von fünf Jahren seine Mutter, die in der 14. Woche mit einem Geschwisterkind schwanger war, an den Tod. Als er 13 wird, also schon ein paar Jahre nach dem Untergang der DDR, verschwindet der Vater. Fünf Jahre lebt Johannes dann mit der Großmutter zusammen, bevor auch die stirbt.
Es ist kaum verwunderlich, dass Köhler früh zu einem kontaktscheuen, nachdenklichen Menschen reift, der nicht viel vom Leben erwartet und schon mehr oder weniger zufrieden ist, wenn es ihn in Ruhe lässt. Er studiert Wirtschaft und findet einen Job als Buchhalter in der Verwaltung. Eher aus Versehen wird er Vater. Unter dieser Oberfläche aber rumort die epische Kraft des Lebens, fechten Verrat, Liebe, Tod und Wahn miteinander. Wobei Verrat in der DDR – das macht auch ihre Literatur besonders – durch die Stasi flächendeckend institutionalisiert war.
Es gab also eine Instanz, die schicksalhaft in die Biografien hineinwirkte. Kein ehemaliger DDR-Bürger kann ausschließen, dass verschwörungspraktisch auf sein Leben Einfluss genommen wurde. Allein schon diese Möglichkeit einer solchen Einflussnahme bereichert die Autorenschaft von DDR-Lebensgeschichten und hält archaische Konflikte für Dramen und Tragödien bereit. Im Fall von Köhlers Eltern, die nahe Halle einen gesellschaftskritischen Lesekreis bilden und mit zaghaften Protestbekundungen ins Visier der Stasi geraten, entfalten Zersetzungsmaßnahmen und Operative Vorgänge ihre – übrigens auch für die Behörden unkontrollierbare – zerstörerische Kraft.
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