Verirrte Wörter
Delphine de Vigan erzählt davon, wie Sprache und Leid verquickt sind
Mit den Wörtern verhält es sich wie mit dem Schmerz: Sie verschwinden endgültig erst mit dem Tod. Der Gedanke, dass Gras über eine Sache wachsen könne, dass der Schmerz sich verflüchtigen könnte, ist trügerisch. Solange es Wörter für das Leiden gibt, ist es existent. Der neue Roman der 1966 geborenen französischen Schriftstellerin Delphine de Vigan ist ein Buch über die Suche nach dem verlorenen Wort.
Michka, in deren Leben sich alles um das Wort drehte, die als Lektorin die Sprache der anderen verbesserte, leidet unter Aphasie. Sie vergisst Begriffe, ersetzt sie durch andere, wohl wissend, dass am Ende das sprachliche Niemandsland droht. Zunehmend verliert sie ihre Selbstständigkeit, wird gequält von Unsicherheit. Ihre Ziehtochter Marie bringt Michka schließlich in einem Seniorenheim unter. Die Eintönigkeit dieses Lebens wird lediglich durch die Besuche Maries und die Übungsstunden mit dem Logopäden Jérôme unterbrochen. Je stärker die Sprachstörung fortschreitet, desto mehr verspürt Michka das Bedürfnis, ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen. Dank möchte sie einem Ehepaar sagen, das sie als kleines jüdisches Kind vor den Häschern des Vichy-Regimes versteckt hatte. Es ist ein Lauf gegen die Zeit ...
De Vigans Buch trägt wie auch schon der vorige Band Loyalitäten einen Titel im Plural: Dankbarkeiten. Im Gespräch befragt nach dieser ungewöhnlichen Wahl der Mehrzahl, meint die französische Schriftstellerin, sie wolle die Komplexität des Begriffs „Loyalitäten“ erfassen. Der Vielschichtigkeit des Begriffs „Dankbarkeiten“ versucht sie nun in ihrem neuen Buch auf die Spur zu kommen. Von der moralisierenden, katholisch anmutenden Aufforderung, Dank als Ausdruck von Anerkennung, ja Schuld zu begreifen, entfernt sie sich immer mehr. Dank wandelt sich in ein inneres Bedürfnis, in das Wesensmerkmal alles Lebendigen. Wer dem Leben den Dank versagt, ist bereits erloschen. De Vigans Buch ist ein Plädoyer für ein „merci, chéri“, das man äußern sollte, bevor es zu spät ist.
Der Tag, an dem das Schweigen siegt, nähert sich unweigerlich. Gleichbedeutend ist er mit Hoffnungslosigkeit. De Vigan bringt diese mit einem göttlichen Wortspiel zum Ausdruck. Michka vergisst den Begriff „danke“ und ersetzt ihn durch „dante“. Da steht sie also vor dem Höllentor und sieht wie in der Göttlichen Komödie geschrieben: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.“
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