Tove Ditlevsen: Gesichter
Die dänische Autorin Tove Ditlevsen kämpfte ihr Leben lang mit Abhängigkeiten. Besonders intensiv erzählt sie davon in ihrem neu aufgelegten Psychiatrie-Roman „Gesichter“.
Stellen Sie sich vor: Es ist das Ende eines langen Arbeitstages. Sie kommen nach Hause, essen, waschen sich. Kurz vor der Nachtruhe fehlt ein letzter Schritt: Sie nehmen Ihr Gesicht ab, legen es auf die Kleidung, „denn Gesichter mussten sich ausruhen und waren beim Schlafen auch nicht dringend notwendig“. In Tove Ditlevsens bekanntestem Roman „Gesichter“ ist dieses Bild noch das sanfteste, mit dem Gesichter beschrieben werden. Ansonsten werden sie verschlissen, verschludert, den Toten gestohlen.
„Gesichter“ erschien 1968 in Dänemark und behandelt die Psychose einer Frau, die vermeintlich alles hat: einen Beruf, der gleichzeitig Berufung ist, Prestige, eine Familie. Als Schriftstellerin sitzt sie nicht nur in einem Zimmer für sich allein, sondern hat eine große Wohnung samt Haushälterin. Doch das, was sie hat, entgleitet ihr: Lises Mann Gert trauert, weil seine Geliebte sich umgebracht hat. Der literarische Erfolg ist ihr lediglich in der Frauen- und Kinderliteratur vergönnt. Die Gesichter geliebter Menschen verzerren sich zu Fratzen. Und der einzige Ort, der ein wenig Freiheit verheißt, ist die Psychiatrie – eine Überdosis Tabletten bringt sie dorthin.
Kunst gegen Depression, Selbstbestimmung gegen Norm: In Tove Ditlevsens „Gesichter“ klingt Sylvia Plaths „Die Glasglocke“ an. Und tatsächlich finden sich Parallelen zwischen der Amerikanerin und der Dänin. Beide schicken ihre Protagonistinnen nach einem Suizidversuch in eine psychiatrische Einrichtung. Beide erkunden in ihren Texten die Möglichkeiten des Schreibens inmitten männlicher Dominanz. Beide Autorinnen entlassen ihre Protagonistinnen hoffnungsvoll aus ihren Romanen – und sterben später selbst durch Suizid. Doch wo „Die Glasglocke“, ähnlich wie Ditlevsen in vielen anderen Werken, kühl von emotionalen Verwerfungen erzählt, entzieht sich „Gesichter“ jeder Klarheit.
Fragmentiert und verstörend berichtet der Roman von der Krankheit einer Frau und der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat. Lise befürchtet, ihr Mann sei in seine Stieftochter verliebt, ihre Haushälterin in ihren Sohn. Sie sieht ihr Bett in Flammen stehen, wird angeblich vergiftet – oder stimmt das doch? Das Nachwort zu „Gesichter“ informiert darüber, dass das Vorbild für die Figur des Psychiaters von Lise Einar Geert-Jørgensen ist, der in den 1960ern LSD-Versuche an unwissenden Patientinnen durchgeführt hat. Mindestens genauso unheimlich wie die Gedanken und Gesichter sind die Stimmen. Lise hört die gehässigen Kommentare derjenigen, die ihr im Leben eigentlich am nächsten stehen. Flüchten kann sie vor ihnen nicht, sie lauern ihr im Kopfkissen und in den Abwasserrohren auf.
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