Bettina Wilpert: nichts, was uns passiert
Bettina Wilperts Roman über einen Vergewaltigungsvorwurf
verzichtet auf einfache Antworten
Zwei junge Menschen, die miteinander im Bett landen. Und plötzlich ist alles anders: Eine ungeheure Beschuldigung steht im Raum und zwei Leben werden aus der Bahn geworfen. Wer ist Opfer, wer ist Täter? Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Das ist nichts, was uns passiert. Oder anders: Das könnte jedem von uns passieren.
Bettina Wilpert erzählt in ihrem Debütroman eine Geschichte, die vor dem Hintergrund der noch schwelenden #metoo-Debatte aktueller nicht sein könnte. Anna behauptet, ihre Affäre Jonas habe sie in einer Partynacht vergewaltigt. Anna zeigt Jonas jedoch erst zwei Monate nach der Tat an. In der linken studentischen Szene Leipzigs, in der der Roman angesiedelt ist, kursieren schon bald Gerüchte über den Vorfall. Und plötzlich muss diese kleine Öffentlichkeit ein Urteil fällen. Doch ein öffentliches Urteil, so zeigt es auch #metoo, hält sich nicht zwangsläufig an die Maßstäbe der Justiz.
Anna, das darf man vorausschicken, ist kein perfektes Opfer. Wilpert hat ihre Protagonistin klug angelegt. Anna trinkt etwas zu viel, hat viele Sexualpartner. Und warum hatte sie nach der mutmaßlichen Vergewaltigung noch Kontakt zu Jonas? Stellenweise erinnert die Konstellation an die reale Geschichte der Kunststudentin Emma Sulkowicz, die 2014 weltweit von sich reden machte: Sulkowicz trug nach einer angeblichen Vergewaltigung durch einen deutschen Kommilitonen im Rahmen ihrer Performance „Carry That Weight“ eine Matratze über den Campus ihrer Universität, der Columbia University in New York. Sulkowicz inszenierte sich als christusgleiche Schmerzensfrau. Ihr Fall war kontrovers aus vielen Gründen. So hatte sie nachweislich nach der Vergewaltigung Kontakt mit ihrem angeblichen Vergewaltiger. Und inszenierte sie sich nicht sehr offensiv und medienwirksam als Opfer? Je nachdem, welche Version der Geschichte man las, sah man ein Opfer, das verzweifelt nach Gerechtigkeit suchte, oder eine enttäuschte Geliebte, die sich rächen wollte. Man sah einen Vergewaltiger, der davongekommen war, oder nur einen „blassen Jungen“ (Die Zeit), dessen Leben durch die Anschuldigungen ruiniert wurde. Einer der beiden musste lügen. Denn es kann doch nicht zwei Wahrheiten geben, oder doch?
Wilpert findet für dieses Problem eine Lösung. Indem sie eine Erzählstimme wählt, die mal in das Bewusstsein des einen, dann des anderen Akteurs eintaucht, steht Aussage neben Aussage, Erinnerung neben Erinnerung. Dem Leser präsentiert sich das Problem auf dieselbe Art wie realen Staatsanwälten, Polizisten und Richtern. Verblüffend ist, dass man beim Lesen tatsächlich beiden glauben möchte. Man glaubt Anna, dass etwas geschehen ist, das sie nicht wollte. Man glaubt aber auch Jonas, dass er Anna nicht vergewaltigen wollte. Denn Wilpert zeigt Jonas als Menschen, nicht als Täter. Der durch und durch böse Täter ist ein Fall für den Psychothriller oder den Profiler.
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