Selene Mariani: „Ellis“
Selene Marianis zarter, sorgfältiger, beunruhigender Debütroman „Ellis“.
Früh im Leben funktioniert Zeit noch anders. Dieser schmale Roman umfasst Punkte innerhalb von 20 Jahren, aber es ist die Zeit zwischen Kindergarten und Erwachsenenalter, eine erhebliche Spanne. „Dass wir zusammen hier sitzen, nach all den Jahren“, kann man da schon oder noch staunen. Dann wieder: was sind 20 Jahre? Aber das weiß Ellis noch nicht.
„Ellis“ ist ein Buch über große Gefühle, aber so wie der zeitliche Bogen subjektiv gigantisch und objektiv überschaubar wirkt, sind die emotionalen Ausschläge wie gedämpft. Sie drängen sich nicht auf. Umso mehr kann man sich dafür interessieren. Umso beunruhigender wirken sie auch.
Selene Mariani, Jahrgang 1994, in Verona und Dresden aufgewachsen, teilt damit Alter und Herkunft weitgehend mit ihrer Titelfigur. Ellis, eine anders geschriebene Alice (im Wunderland, nein, nicht im Wunderland), ist eine junge Frau zwischen zwei Sprachen und zwei Welten, die sich nicht dramatisch unterscheiden, aber doch irritieren können. Ellis nimmt den Charme und die Schwierigkeiten der Zweisprachigkeit wahr. Seiner Mutter sagt das Kind einmal, es könne kein Italienisch mehr (und sich also nicht mehr mit der Großmutter unterhalten). Das könne doch nicht sein, sagt die ratlose Mutter. Wie im Spiegelkabinett sieht Ellis immer auch, wie andere sie sehen und Deutschland sehen, Italien sehen. Wie sie denken „typisch italienisch“. Oder wie sie sagen „deine Leute“.
Die junge Erwachsene verbringt jetzt Ferien in Italien, ihre alte, frühere Schulfreundin Grace ist mitgekommen. Selene Mariani schildert in Miniaturkapiteln kurze Szenen aus Gegenwart und Vergangenheit – schildert sie empfindlich, aber nicht sentimental, sondern um Genauigkeit bemüht. Um die Sätze zum Beispiel, die einen vor Ewigkeiten gekränkt haben, die beschämenden Momente, bei denen man sich davor graust, dass sie einem in den letzten Sekunden des Lebens noch einmal in aller Klarheit dargeboten werden könnten.
Bei alledem nähert man sich lesenderweise allmählich dem Kern des Geschehens. Denn die mäandernden Abschnitte mit den kleinen Zeitsprüngen und Situationswechseln führen zu Ellis’ Beziehung zu Grace. Eine jener Freundschaften, die jedenfalls viele Mädchen schließen und die später besser auseinandergehen. Freundschaften, in denen es ein Gefälle gibt. Gift liegt darin, ein Mix aus Machtausübung, Eifersucht, Missgunst. Ellis ist in einer ungünstigen Position, aber Mariani überlässt die Reflexion uns. Die Ich-Erzählerin ärgert sich bloß darüber, dass die Italienischlehrerin Grace lobt, die, wie Ellis mit unerwähnter Genugtuung feststellt, nie lernen werde, das R zu rollen.
Selene Mariani: Ellis. Roman. Wallstein, Göttingen 2022. 148 Seiten, 20Euro.
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https://www.fr.de/kultur/literatur/selen...d-91505323.html
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