1. KAPITEL
Der junge Franzose Monsieur M. sitzt im hinteren Hof einer Klinik auf einem großen spitzen Stein. Die Farben des heutigen Tages sind herrlich! Die Sonne schwimmt, wie eine Insel im Strom kleiner Wolken, in den Westen. Monsieur M. wackelt mit seinem mageren Popo und ist sich sicher, dass dieses Leben doch ganz und gar ungemütlich sein kann.
Der gute Mann breitet elegant, wie eine Serviette beim Essen, die Zeitung auf seinem Schoß aus. „Der Tortenwerfer von Paris“? Soso!, denkt belustigt Monsieur M. So nennt man mich also. Die Presse ist nicht gerade bei der Namensgebung einfallsreich gewesen. Es wirft jemand in Paris mit einer Torte, somit ist er also der Tortenwerfer von Paris… Der Gesellschaft mangelt es wirklich an guten Ideen! Die wahren Künstler sind eben so selten, wie das pure Glück, denkt Monsieur M.
Der gute Mann ist ein bisschen kreativer, wenn es um die Wahl der Namen seiner Mitmenschen geht. Den alten Monsieur mit dem langen weißen Bart und Haar, der durch den Hof hüpft, wie ein Reiter auf einem unsichtbaren Pferd, hat er an dem ersten Tag seiner Einweisung „Schimmel“ getauft - und Schimmel ist mit seinem neuen Namen durchaus zufrieden.
Schimmel „galoppiert“ auf ihn zu. „Wird es morgen endlich kühler?“. Er versteht nicht recht. Ist er ein Meteorologe oder was? Woher soll er das wissen? Außerdem: Morgen ist ein gewöhnlicher Tag! Warum ist Schimmel nur das Wetter so wichtig, wenn sie eh den ganzen Tag im Haus sein und vor dem Fernseher sitzen werden? Was gibt’s schon hier draußen zu sehen? Einen Haufen toter Blumen und ein Mann, der glaubt, ein Pferd zu sein… oder wohl gern ein Pferd wäre! Wer weiß das so genau? Vielleicht ist sich da nicht einmal der Doktor Voyeur sicher! Und Doktor Voyeur weiß sicherlich sonst alles!
„Ich weiß es nicht“, antwortet Monsieur M. wahrheitsgemäß. „Hoffentlich wird es regnen! Die Blumen würden sich freuen! Sie lassen inzwischen, genauso wie wir, ihre Köpfe hängen!“.
Schimmel reißt die Zeitung an sich und erklärt, dass es morgen wieder ganze 5 Grad wärmer wird.
Die Beiden stehen auf und gehen durch die langen Fluren der Klinik, durch dessen Fenster ein nahezu magisches Licht einfällt. Wenn ich zurzeit nicht diese Krise hätte, denkt Monsieur M., würde ich das Licht malen!
2. KAPITEL
In seinem Zimmer steht Monsieur M., von einem Fuß aufs Andere tretend, vor seiner großen Staffelei. Er ist vollkommen nervös. Er kann einfach nicht mehr stillstehen und klar denken. Monsieur M. ist von dem reinen Weiß seiner Leinwand geblendet, als würde er direkt in die Sonne starren. Er setzt sich verzweifelt auf die Kante seines kleinen Bettes, reibt seine gereizten Augen und überlegt: Warum malen so wenige Menschen Bilder? Ist es denn nicht armselig, wenn man nichts hinterlässt, was ein reiches Innenleben bezeugt? Ist es denn nicht so, als hätte man gelebt, ohne wirklich gelebt zu haben, wenn man nichts gemalt und gezeichnet oder geschnitzt und modelliert hat? Ist es denn nicht einfach nur eine Ausrede, wenn Menschen meinen, sie hätten dafür kein Talent? Die Leute, die sagen, dass sie dafür kein Talent hätten, interessieren sich nicht für Kunst! Sie schmeißen auf ihre völlige Ignoranz den durchsichtigen Schleier falscher Ehrfurcht. Denn wenn sie wirklich versucht hätten, Kunst zu machen, würden sie über die vielen Möglichkeiten, die es gibt, staunen. Sie müssten immer weiterarbeiten, egal ob ihre Werke gut oder schlecht sind. Sie wären auf der Suche nach der einzig wahren Technik, die ihnen erlaubt, ihr Innerstes nach außen zu kehren.
Monsieur M. steht vor dem Fenster und sieht in den Hof mit dem spitzen Stein, auf dem er saß, hinaus. Vielleicht würden gewöhnliche Menschen bei diesem Ausblick in eine sehnsuchtsvolle Stimmung verfallen und würden am liebsten verreisen. Doch wo sollte Monsieur M. hin? Wieso sollte es ihm anderswo anders als hier gehen? Er ist müde und weiß, dass ihm eine lange Nacht bevorsteht. Er weiß, dass die Gedanken unaufhaltsam hin- und herspringen werden und er nichts dagegen tun kann.
Kein Mensch dieser Welt findet die richtigen Worte. Keine Tablette dieser Welt schenkt ihn Ruhe.
3. KAPITEL
Monsieur M. kann nicht schlafen. Er verlässt, von tausend Gedanken gequält, sein Zimmer und trifft im Gemeinschaftsraum Schimmel und andere Insassen der Klinik. In diesem Raum sind kleine Regale mit kaputten Büchern. Hier gibt es auch ein Tischchen, auf dem täglich die aktuelle Zeitung ausliegt. Monsieur M. ist ein leidenschaftlicher Zeitungsleser. Er liest jeden noch so banalen Artikel und weiß immer genau, was in dieser Welt vor sich geht. Vielleicht will er nur so gut informiert sein, um sich von dem Gefühl, auf dieser Welt eigentlich völlig fremd zu sein, hinwegzutrösten?
Die riesige Deckenlampe in der Mitte des Raumes wackelt manchmal, weil oben die Tanztherapie stattfindet, an der Monsieur M. bereits fünf-, sechsmal teilgenommen hat. Irgendwann, denkt sich der gute Mann, wird die Lampe wohl einen Patienten auf den Kopf fallen. Die Menschen sehen das Hin- und Hergewackel. Den Menschen, denkt Monsieur M., ist ihre Lebensgefahr durchaus bewusst. Trotzdem sitzen die Lebensmüden jeden Tag hier, wenn sie nicht gerade zu einer langen Sitzung zu Dr. Voyeur müssen.
Die Insassen sitzen zusammen vor dem alten kleinen Fernseher und sehen einen kitschig-klischeehaften Liebesfilm. Ja, denkt Monsieur M., so ist das Leben sicher nicht. Es ist nicht alles so einfach, wie im Film, dass Menschen einander kennenlernen und zusammen bleiben. In Wahrheit sind wir Menschen alle Einzelkämpfer.
Doch die Anderen lachen und freuen sich über den Film. Die Anderen sind so oberflächlich und plautzen gedankenlos, was ihnen gerade so einfällt, raus. Als wären sie betrunken und wüssten nicht, was sie sagen.
„Bist Du schon aufgeregt, wegen morgen?“, fragt ein Mann Schimmel. „Oh ja!“, entgegnet Schimmel und lacht.
Monsieur M. weiß nicht worum es geht. Er will es auch gar nicht wissen. Sollen die Männer nur ihren Film sehen, wenn sie Spaß daran haben. Morgen werden sie diesen ganzen Quatsch, wie den heutigen Wetterbericht, eh wieder vergessen haben.
4. KAPITEL
„Haben Sie etwas gemalt?“, fragt am nächsten Tag bei einer langen Sitzung Doktor Yoyeur Monsieur M.
Doktor Voyeur sitzt dem armen Mann mit einem überschlagenen Bein gegenüber und schreibt Notizen auf und sieht Monsieur mit einem durchdringenden Blick an.
„Ich habe es versucht. Aber ich konnte nicht!“, antwortet der arme Mann. „Ich weiß nicht, was ich tun soll!“
„Konnten Sie schlafen?“, fragt der Psychiater.
„Ich habe lange vor meiner Staffelei gesessen und habe kurz mit den Anderen einen Film gesehen. Danach lag ich im Bett und war müde und konnte aber nicht schlafen. Als ich dann endlich eingeschlafen bin, habe ich…“
„Ja?“, unterbricht ihn Doktor Voyeur. „Was ist passiert?“.
„Ich habe geträumt. Ich bin dann heute früh wachgeworden und habe noch lange über meinen komischen Traum nachgedacht. Ich hatte geträumt, dass die Menschen alle Clowns wären. Sie liefen durch die langen Flure dieser Klinik und haben einander mit Bildern, die noch ganz feucht waren, beworfen. Sie haben sie einander in ihre hässlichen Clownsgesichter gedrückt. Als wären diese Bilder Torten. Die Clowns haben Jagd aufeinander gemacht. Sie haben, hinter Türen stehend, gewartet und gekichert, wie kleine Mädchen. Man hat in jedem Raum einen Hinterhalt befürchtet. Man war nirgendwo sicher. Ich hatte schreckliche Angst gehabt. Ich hatte Angst vor den Clowns und davor, dass man die Kunst unwiederbringlich zerstört! Ich habe schließlich hinter dem großen Stein im Hof Schutz gesucht!“.
„Können Sie mir bitte, Monsieur M., erklären, warum sie im Louvre die „Mona Lisa“ mit einer Torte beworfen haben, wenn doch die Kunst für Sie offensichtlich so wichtig ist?“.
„Ich denke, dass ein Menschenleben wichtiger als die Kunst ist. Warum verehrt man so sehr die Werke alter Meister, wenn diese alten Meister damals nicht einmal von ihrer Kunst leben konnten und wie Dreck behandelt wurden? Ist nur das, was der Mensch in seinem Leben schafft, wichtig? Ist der Mensch, wenn er nichts leistet, nichts wert? Warum könnte einen heutigen Menschen wieder dieses Schicksal ereilen? Warum geben Menschen auf Auktionen Millionen für Bilder aus, anstatt das Geld bedürftigen Menschen zu spenden?“.
Monsieur M. sieht Doktor Voyeur fragend an. Doch der Psychiater bemüht sich gar nicht, diese Fragen zu beantworten. Er blickt, über Monsieurs Kopf hinweg, auf die kleine Wanduhr.
„Es ist schon spät. Ich will noch einmal über ihren Traum nachdenken. Ich denke, dieser „komische Traum“, wie Sie ihn nennen, birgt eine Botschaft, die wir entschlüsseln sollten“.
„Doktor, ein Mann hat gestern Schimmel gefragt, ob er wegen morgen aufgeregt wäre. Wissen Sie, was er meinen könnte?“, fragt Monsieur, kurz bevor sie sich halbherzig verabschieden werden.
„Ich weiß es nicht.“, sagte Doktor Voyeur, der wohl mit seinen Gedanken wieder ganz woanders war. Doch worüber wird der Psychiater nachdenken? Wie sieht es im tiefsten Inneren eines Menschen aus, der in den geheimnisvollen Tiefen anderer Seelen taucht?
5. KAPITEL
Als Monsieur M. wieder in seinem Zimmer ist, hört er einen furchtbaren Krach. Es war so laut, als hätte man eine Grundschule über Nacht aus der Erde gestampft.
Er geht in den Gemeinschaftsraum und sieht, wie die Männer um Schimmel herumstehen und fröhlich ein Geburtstagslied trällern. Ein junger Mann, der wegen dem heftigen Studiumsstress durchgedreht ist, stellt eine mehrschichtige weiße Torte, die ein bisschen an eine Hochzeitstorte erinnert, auf den Tisch. Alle klatschen und freuen sich und Schimmel pustet die Kerzen aus. Der Gesang und das Lachen werden immer lauter und lauter. Monsieur M. hält sich die Ohren zu. Er schreit: „Seid ruhig! Seid ruhig!“.
Doktor Voyeur rennt aus dem Nichts, wie ein wildes Tier, zu dem armen Monsieur und versucht vergebens seine Hände von den Ohren zu reißen. „Beruhigen Sie sich!“.
6. KAPITEL
„Geht es Dir besser?“, fragt Schimmel, der besorgt auf Monsieur M., der in seinem Zimmer fixiert im Bett liegt, hinabsieht.
„Was ist passiert?“, fragt Monsieur.
„Du hattest einen Zusammenbruch!“, erklärt Schimmel. „Wir haben dich in dein Zimmer gebracht!“.
Doktor Voyeur tritt in das Zimmer und lockert an den Füßen und den Handgelenken die Fesseln.
Schimmel und Monsieur M. schauen aus dem Fenster hinaus. Sie sehen den spitzen Stein, auf dem Monsieur M. manchmal sitzt und die Zeitung liest.
„Es regnet!“, stellt Monsieur fest. „Da werden sich die Blumen freuen!“.
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Ich habe es gern gelesen, Dilemmaemma. Und es ist eine gute Kurzgeschichte, soweit ich es beurteilen kann. Das Setting erinnert an "Einer flog über das Kuckucksnest". Da sind sehr gelungene, schöne, lyrische Bilder drin:
Zitat von Dilemmaemma im Beitrag #1
Die Sonne schwimmt, wie eine Insel im Strom kleiner Wolken, in den Westen.
Zitat von Dilemmaemma im Beitrag #1
breitet elegant, wie eine Serviette beim Essen, die Zeitung auf seinem Schoß aus.
Nicht erst morgen, heute komm zum Rosengarten. (Pierre de Ronsard)
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